Oxford Street, London, ein nobles Kaufhaus, 28.01.1894: ein zerlumpter und verwirrter Mann taucht auf, fragt nach dem genauen Datum und macht sich aus dem Staub. Derweil besucht ein mitgenommener Sherlock Holmes Megan Connelly im Krankenhaus, die sich immer noch davon erholt, dass sie dem Meisterdetektiv durch eine waghalsige telepathische Verschmelzung das Leben rettete, als der gerade gegen die finstern Mächte des Necronomicons kämpfte. Überzeugt davon, seinem Umfeld nur Unglück und Leid zu bringen, hat Holmes sich zurückgezogen und betreibt unerkannt eine Buchhandlung in London. Aber selbst dort lässt ihn das Verbrechen und die Zukunft nicht zur Ruhe kommen: die Queen höchst selbst lässt ihn vorladen, um einen gewissen Aaron McBride zu finden, der vor 20 Jahren spurlos verschwand und nun plötzlich wieder aufgetaucht ist – offenbar um einen verheerenden Anschlag zu verüben. Niemand anders als dieser McBride sucht indessen den Maler und Magier Marcellus auf, der das Necronomicon dazu nutzte, Bilder zu kopieren, die in der Zukunft stilprägend werden.
Vor 20 Jahren haben Marcellus und McBride an einer Technologie gearbeitet, die es ermöglicht, durch die Zeit zu reisen, wobei McBride offenbar Erfolg hatte. Mit einem Armband zur „Desynchronisation“ ist es ihm gelungen, sich 4000 Jahre in die Zukunft zu transportieren, was allerdings alles andere als eine Vergnügungsreise war: auf einer zerstörten Erde traf McBride auf übellaunige Monster, die ihn zwangen, auch Ihnen den Zeitsprung zurück zu ermöglichen – und die sich als Gestaltwandler mitten in London versteckt halten. Holmes staunt indessen nicht schlecht, als ihm die Queen ausgerechnet den High Lord als Unterstützung an die Hand gibt, jenen Obervampir, mit dem er schon unangenehme Bekanntschaft machen durfte. Der High Lord zeigt dem verblüfften Holmes in geheimen Räumen des Kriegsministeriums eine seltsame Maschine, mit der man natürliche und übernatürliche Ereignisse beobachten kann und so auch auf das bevorstehende Attentat aufmerksam wurde. Holmes schlechte Vorahnungen verstärken sich noch, als er bei einem erneuten Besuch bei Megan von einem Unbekannten überfallen wird und nach der Attacke feststellen darf, dass Megan bei bester Gesundheit aus ihrem Koma erwacht ist.Als McBride und Marcellus gerade die Zeitmaschine testen und feststellen, dass offenbar noch mehr Reisende im Zeitstrom unterwegs sind, tritt die rothaarige Lynn Redstone auf den Plan, die unter Anweisung von Marcellus die in ein Geheimversteck verbrachte Megan angreift – nur um zu erfahren, dass Megan sich ihrer Sache allzu gerne anschließt.
Marcellus selbst attackiert Holmes im Kriegsministerium und entführt ihn über eines seiner Bilder, die sich als Dimensionsportal dienen, zum Versteck McBrides, in dem mittlerweile auch Megan angekommen ist. Dort eröffnet McBride dem entsetzten Holmes seine Version der Ereignisse: aus der Zukunft ist eines der Monster vor Jahren nach London gekommen, hat die Rolle der Queen übernommen und orchestriert nun die Geschicke aller. Holmes sucht nach dem Einzigen, der in dieser Sache noch helfen kann: der entlassene Colonel Tiburce Damiens, den ehemaligen Chef von Megan. Der hat seinerzeit bei Scotland Yard den Bau einer Maschine verfolgt, deren Zweck offenbar Zeitmanipulationen war und die Queen Victoria dringend in Gang setzen will. Holmes und seine Kampfgefährten dringen in den White Room ein und entdecken dort Pläne einer Maschine, die eine Zeitschleife erzeugen kann – die Welt soll also gewissermaßen eingefroren werden, während eine kleine Sphäre das Überleben weniger Auserwählter sichert. Holmes macht sich daran, dieses Schicksal zu ändern, aber im White Room entdeckt er noch andere Dokumente, die noch gänzlich weitreichendere Enthüllungen enthalten…
Mit der Saga um die Zeitreisenden gelingt Sylvain Cordurié endgültig die Lösung aus dem literarischen Holmes-Kanon (alle klassischen Figuren wie Mycroft, Moriarty und auch Watson treten nicht auf) und die Erschaffung eines fiktiven Universums, das ausreichend ausgebreitet ist, um auf sich selbst referenzieren zu können: die Handlung nimmt Charaktere aus bisherigen Abenteuern wieder auf (Mandragore, Vampire von London) und schließt den Bogen direkt zu den Geschehnissen in Necronomicon, die hier ihre tiefere Erklärung erhalten. Auch Crime Alleys kommt zu Ehren: in Maxwell Lescot, dem Erfinder der Zeitmanipulationsmaschine, der offenbar multiple Persönlichkeiten beherrscht, erkennt Holmes eine Verbindung zu seinem erstem Fall überhaupt – die Übertragung von Bewusstsein führte die Moriarty-Familie seinerzeit immerhin für einen unerkannten Auftraggeber aus. Wie schon in Mandragore erscheint Lynn wie eine Superheldin moderner Zeiten, adrett im engen Lederkostüm und roter Mähne könnte sie glatt bei den Avengers einsteigen, falls Frau Romanova mal abhanden kommen sollte.
Das Motiv der Zeitreise selbst hingegen liefert dann doch wieder eines der für Cordurié typischen literarischen Zitate: im gleichen Jahr, in dem H.G. Wells seinen Zeitreisenden in eine finstere Zukunft blicken ließ, macht sich auch McBride auf den Weg in eine apokalyptische künftige Version Englands – wobei keine sozialistischen Anti-Utopien, sondern handfester Horror im Stile Lovecrafts die Basis bilden, der ja auch schon beim Necronomicon und der Idee der magischen Bilder Pate stand. Somit erzeugt Cordurié die gespenstische Atmosphäre einer Verschwörung durch Raum und Zeit, die bis in die höchsten Sphären reicht – ein Jahrhundert später wird sich ein obskurer FBI-Agent mit ähnlichen Dingen beschäftigen. Bis dahin übernimmt Holmes diesen Job, der am Ende geläutert dasteht und erkennt, dass er nur er selbst sein muss, um der Beste zu sein. Spannend, spektakulär, intelligent und zum Mitdenken gemacht – und stimmig, von Details bis zu groß angelegten Set Pieces, gezeichnet. Auch dieses Abenteuer kommt uns wieder als Double-Ausgabe entgegen und bringt damit beide Originalbände in einem Album. (hb)
Sherlock Holmes und die Zeitreisenden
Text: Sylvain Cordurié
Bilder: Laci
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-199-4