London, 1891: vor zwei Monaten kam der Meisterdetektiv Sherlock Holmes an den Reichenbach-Fällen in der Schweiz zu Tode und riss dabei seinen Erzfeind Moriarty gleich mit. So zumindest will er es die Welt glauben machen. In Wahrheit erfreut er sich bester Gesundheit – aber zum Schutz vor den Schergen Moriartys lässt er selbst enge Vertraute wie Watson im Glauben, er habe das Zeitliche gesegnet. Seinem Bruder Mycroft allerdings vertraut er sich an, will er doch endlich seinen langgehegten Plan umsetzen, auf Reisen zu gehen und die Welt kennenzulernen. Da aber holt ihn die Realität grausam ein: seine Vermieterin in Paris wird von Vampiren überfallen und getötet, und das ist keinesfalls Zufall. Das Teufelspack teilt Holmes mit, ihr Anführer habe etwas mit ihm im Schilde. Das sieht der Detektiv naturgemäß etwas differenzierter und entkommt knapp, überlässt den schwer verletzten Mycroft der Obhut der französischen Polizei und studiert alles, was er über Vampire finden kann. Nachdem die Viecher ihn offenkundig brauchen, lässt er sich allzu gerne finden, als sie ihm eine täuschend echte Doppelgängerin seiner verflossenen Geliebten Irene Adler schicken, mit der sich Holmes in Richtung London einschifft. Die Vampirlady, führt ihn ins Versteck des Kroppzeugs, wo ihm der Anführer Selymes die finsteren Pläne enthüllt: Owen Chanes, ein abtrünniger ehemaliger Getreuer, hat ihnen die Fehde erklärt und bringt reihenweise exponierte Personen des politischen und gesellschaftlichen Establishments um. Queen Victoria selbst zeigt sich hierüber alles andere als amused und hat Selymes – dessen Machenschaften sie bislang toleriert – aufgefordert, den Psychopathen zu stoppen.
Holmes fällt nun die Aufgabe zu, Chanes ausfindig zu machen – im Gegenzug verspricht Selymes ihm, seine Liebsten zu schonen. Am letzten Tatort findet Holmes tatsächlich entscheidende Hinweise auf den Verbleib des Missetäters, der offenbar wie er selbst dem Opium frönt, aber die Queen wird zunehmend unwillig und setzt Selymes weiter unter Druck. Der attackiert daraufhin Dr. Watsons Ehefrau Mary, um seinen Forderungen weiteren Nachdruck zu verleihen, aber Holmes setzt seine Recherchen unbeirrt fort. In seinen alten Akten in der Baker Street findet er schließlich den Schlüssel: Chanes Eltern wurden offenbar Opfer des Shadwell Butcher, dessen Fall der junge Holmes 1876 löste. Das hat dem jungen Herrn einen ordentlichen Knacks gegeben, und genau aus diesem Grunde verwandelte ihn der finstere Selymes ihn ein Geschöpf der Nacht – und infizierte ihn dabei mit einer Geisteskrankheit, die er nur notdürftig mit Rauschgift unter Kontrolle halten kann. Holmes zeigt sich bewegt, hat aber letztendlich kein Mitleid und hinterlässt Chane in einem Flammeninferno. Er überlässt die Aufzeichnungen des Falles seinem alten Freund Watson und zieht in die finale Schlacht, um endgültig zu verhindern, dass Selymes Watson jemals wieder angreifen kann. In der letzten Konfrontation tritt aber plötzlich ein überraschender Verbündeter auf…
Mit diesem Zwischenspiel, das in der Holmes-Mythologie chronologisch nach der Erzählung „The final problem“ von 1893 und damit dem vermeintlichen Tod von Holmes in den Reichenbach-Fällen angesiedelt ist, liefert Sylvain Cordurié eine Storyline, die mit dem eigentlichen Holmes-Universum eher weniger zu tun hat. Obwohl Holmes‘ Weltreisen unter dem Decknamen Sigerson, die er am Ende dieser Storyline aufnimmt, auch bei Conan Doyle stattfinden, treten hier zentrale Figuren wie Moriarty und Dr. Watson nicht oder nur ganz am Rande auf; anstelle des etatmäßigen Chronisten Watson zeichnet Holmes selbst die Geschichte für seinen Freund auf, und das übernatürliche Element nimmt deutlich breiteren Raum ein als die Wissenschaft der Deduktion, für die der scharfsinnige Ermittler ja eigentlich bekannt ist. Wie schon in „Sherlock Holmes & das Necronomicon“ akzeptiert der eigentlich beinharte Realist die Existenz des Grauens relativ schnell, da es die einzige Erklärung für die Geschehnisse bietet, die sich im Stile des klassischen Horror eines Bram Stoker entfalten (die Vampire können sich in riesige Fledermäuse verwandeln und reagieren äußerst allergisch auf Feuer).
Corduriés Spezialität, sein viktorianisches Zeitalter mit realen und fiktiven Charakteren zu bevölkern, kommt ebenfalls spärlich zum Einsatz – lediglich Queen Victoria herself gibt sich die Ehre. Dennoch gibt es genügend vergnügliches Fährtenlesen, um Holmes-Freunde bei der Stange zu halten, und vor allem stellt Cordurié den Ermittler vor ein handfestes moralisches Problem: hilft er dem abtrünnigen Chanes, oder lässt er ihn untergehen? Verdient ein Verbrecher mit menschlichen Zügen eine Chance, oder überwiegt die Gefahr für die Gemeinschaft? Zeichner Laci, der auch schon „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ illustrierte, inszeniert das Geschehen in ruhigem, fließenden Stil mit teilweise filmischen Totalen. Die Sequenz, in der Selymes Mary Watson angreift, erweist sich dabei als besonders bemerkenswert: Holmes erlebt über das geistige Auge von Selymes die Attacke mit, was wie eine subjektive Kamera aus deutschen Stummfilmmeisterwerken umgesetzt ist. Schön und äußerst passend. Splitter, die nach und nach (wenn auch nicht chronologisch richtig sortiert, aber sei’s drum) alle Holmes-Bände aus der emsigen Feder Corduriés und auch andere literarisch ähnlich verortete Werke bringen, legt auch diese Ausgabe als Double-Edition vor, wodurch wir gleich beide Teile des im Original 2010 erschienenen Abenteuers bewundern können. (hb)
Sherlock Holmes & die Vampire von London
Text: Sylvain Cordurié
Bilder: Laci
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
18,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-197-0
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