Sherlock Holmes ist wieder da. 1894 taucht er plötzlich wieder auf, vier Jahre nach seinem Verschwinden in den Reichenbach-Fällen, das er offenbar nur inszeniert hat, um auf die Suche nach sich selbst zu gehen, ohne Scotland Yard, ohne Watson und seinen Bruder. All das holt ihn aber jetzt wieder ein, als er sich – frisch wieder in London – auf die Spur des ebenfalls wieder auf der Bildfläche erscheinenden Jack the Ripper macht. Schnell macht man den Missetäter dingfest – aber obwohl für Holmes eindeutig feststeht, dass man es nur mit einem Nachahmer zu tun hat, feiert Lestrade seinen Fahndungserfolg als Abschluss der Mordserie. Enttäuscht will man sich in Baker Street schon wieder anderen Dingen zuwenden, als Sherlocks Bruder Mycroft mit einer höchst brenzligen Angelegenheit an den scharfsinnigen Ermittler herantritt: das irische Küstendorf Keelodge wurde von einer Seuche heimgesucht, deren Auslöser man vergeblich zu ergründen sucht. Die anfängliche Ablehnung des Auftrags legt sich schnell, als Mycroft herausrückt, dass Watsons ehemalige Geliebte Rebecca Jones, eine Expertin für Epidemiologie, mit einem Soldatenkommando im Dorf verschollen ist.
Vor Ort erleben Holmes und Watson dann die grausige Wahrheit: das von Mycroft als „Seuche“ bezeichnete Phänomen entpuppt sich als nichts anderes als eine handfeste Zombie-Plage, die die gesamte Dorfbevölkerung innerhalb kürzester Zeit zu wandelnden Leichen gemacht hat, denen man nur noch mit Kopfschuss oder ähnlich rabiaten Methoden beikommt. Holmes erklärt sich bereit, gemeinsam mit einem Stoßtrupp auf Ursachenforschung zu gehen. Dabei bleibt ihm nicht lange verborgen, dass man es hier in keinster Weise mit einem unerklärlichen Schicksalsschlag, sondern mit einer konkreten Verschwörung zu tun hat: die Dorfbewohner wurden ganz offenkundig durch Trinkwasser und Wein bewusst vergiftet. Als man die Überreste des ersten Soldatentrupps tatsächlich findet, muss Watson persönlich seiner ehemaligen Herzensdame, die längst in die Reihen der Untoten gewechselt ist, den Garaus machen.
Unter schweren Verlusten entkommt man dem Heer der Leichen um Haaresbreite, worauf die Armee das gesamte Dorf per Brandbomben dem Erdboden gleichmacht. Zu Holmes Entsetzen konfisziert Mycroft sofort sämtliche gesammelten Proben und macht sich somit mehr als nur verdächtig, irgendwie an diesem schmutzigen Spiel beteiligt gewesen zu sein. Aber Holmes ruht natürlich nicht und nimmt die Spur wieder auf, als ihm einer der überlebenden Soldaten, der Aufklärung über das Schicksal seiner toten Kameraden möchte, einige entnommene Proben zuspielt. Die Fährte der chemischen Zutaten, die Holmes aus dem Serum isoliert, führt ihn zu einem mysteriösen „Institut“, das unter Rückendeckung der Regierung ganz offenbar illegale Experimente an Menschen durchführt. Einer der Handlanger, den die Dunkelmänner um den verdächtig erfolgreichen Psychologen Shelvey dafür einsetzen, spielt eine ganz besondere Rolle – denn auf Basis seines eigenen Serums hat man die Formel für die finsteren Machenschaften erst entwickelt. Der ungehobelte, gewalttätige Unhold wird zum Verbündeten von Holmes, der ihm rasch seinen Namen auf den Kopf zusagt: Edward Hyde…
Sylvain Cordurié baut konsequent weiter an seinem ganz eigenen Sherlock-Holmes-Universum, in dem er neben den Jugendjahren des Detektivs (Crime Alleys) vor allem auf eine Verbindung zwischen den Detektiv-Aspekten der Vorlage und übersinnlichen Elementen setzt (Die Vampire von London, Sherlock Holmes und das Necronomicon, Sherlock Holmes und die Zeitreisenden). Waren es in Crime Alleys noch die Moriartys, mit denen sich der junge Holmes auseinandersetzen musste, sieht er sich hier mit einem zutiefst (post)modernen Horror-Element konfrontiert, das zu Zeiten des geistigen Vaters der Figur Arthur Conan Doyle im Gegensatz zu den ebenfalls schon eingeführten Vampiren (Bram Stoker) und Zeitreisen (H.G. Wells) noch in weiter Ferne war. Dafür vergisst Cordurié über allem monsterhaften Aspekt nicht den detektivischen Ansatz: im Gegensatz zu den modernen Zombie-Epen, in denen es um die Brüchigkeit der Zivilisation geht, gilt es hier, in bester Doyle-Manier einen Fall zu lösen.
Holmes sammelt Indizien, zieht seine Schlüsse, analysiert Verhalten und Erscheinungsbild von Personen und enthüllt so nach und nach eine abgründige Organisation des Schreckens, deren ganzes Ausmaß auch am Ende, als Baker Street selbst zum Angriffsziel wird, noch nicht klar ist. Ähnlich wie das Spiel mit literarischen Motiven, das Dobbs in Scotland Yard betreibt, baut auch Cordurié mit der Figur des Hyde ein zweites fiktives Universum in seine Geschichte ein, die stimmig motiviert erscheint – Hyde, der nach seinem „Mord“ an Dr Jekyll geflohen ist, will sein Serum weiter verfeinern und fällt dabei den Drahtziehern der Zombie-Plage als dankbares, aber widerspenstiges Mittel zum Zweck in die Hände.
Besonders gefällt neben diesen literarischen Verknüpfungen die psychologische Wendung, die das Verhältnis Watson und Holmes nimmt: ist es in der Vorlage eher der Detektiv, der sich durch antisoziale Züge auszeichnet, gleitet hier der eigentlich doch rationale und besorgte Arzt durch den Tod seiner Geliebten immer mehr in psychische Abgründe und Alkoholmissbrauch ab und bietet Holmes zunehmend Grund zur Sorge. Stéphane Bervas, der diese Episoden aus Corduriés Holmes-Universum inszeniert, bringt das Geschehen in ruhige, detailreiche Zeichnungen mit viel Londoner Lokalkolorit, das ohne plakativen Effekte auskommt und eher auf eine viktorianisch anmutende, gemächliche und somit exakt auf den Inhalt passende Erzählweise mit Holmes als Berichterstatter setzt. Der vorliegende Splitter Double Band bringt mit „Die Keelodge Affaire“ und „Dunkel sind ihre Seelen“ die ersten beiden Kapitel der Storyline, die im hoffentlich bald folgenden Band „In Nomine dei“ ihr Ende finden dürfte. (hb)
Sherlock Holmes Society, Band 1: Die Keelodge Affäre
Text: Sylvain Cordurié
Bilder: Stéphane Bervas, Eduard Torrentes
112 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-275-5