Sherlock Holmes ist aus London verschwunden. Nach den schicksalhaften Ereignissen an den Reichenbachfällen und der Erkenntnis, dass das Übernatürlich beeindruckend real ist – nachdem Vampire London überrennen, bleibt dies getreu von Holmes‘ Methodik die einzig plausible Erklärung, wie unwahrscheinlich sie auch scheinen mag – macht sich der Detektiv auf eine ausgedehnte Forschungsreise, die ihn bis in antarktische Gefilde führt. Im ewigen Eis macht er eine verstörende Beobachtung: in einer beklemmend realistischen Vision durchlebt er seinen Kampf mit Moriarty nochmals, wobei sein Widersacher dieses Mal den Sieg davonträgt. Das schockiert Holmes dermaßen, dass er nach London zurückkehrt und dort von wahrlich erschreckenden Vorgängen erfährt. Alle Informanten, die jemals mit ihm zusammengearbeitet haben, werden bestialisch umgebracht. Bei den Ermittlungen beschleicht Holmes bald ein Verdacht, der sich schließlich bewahrheitet: sein Erzfeind stürzte in den Reichenbach-Fällen mitnichten in den Tod, sondern hat die Konfrontation dank eines Paktes mit den finsteren Mächten überlebt. Seither wandelt er als halbtoter Körper umher und sucht das legendäre Necronomicon, das Buch der Toten, von dem er sich seine endgültige Wiederherstellung und unendliche Macht erhofft.
Holmes wird von einer jungen Dame kontaktiert, die sich zunächst als die Schwester eines seiner ermordeten Informanten ausgibt, aber in Wahrheit Megan Donnelly heißt und ein Mitglied einer mysteriösen Geheimorganisation ist, die im Auftrag der englischen Queen höchst selbst gegen die Mächte der Finsternis angeht. Als Moriarty Holmes durch einen Trick in seine Gewalt bringt, um ihm einen Teil seiner Seele wieder zu entreißen, die er ihm vor seinem „Tod“ vorsorglich übertragen hatte, gelingt gemeinsam noch die Flucht. Aber als Moriarty Holmes, Donnelly und ihren Anführer Damiens damit erpresst, ein Massaker in London anzurichten, führt man ihn in die Bibliothek, in der ein Exemplar des Totenbuchs verwahrt wird. Moriarty stellt in einem finsteren Ritual eine Verbindung zwischen Holmes, sich selbst und dem Buch her, worauf er in der Tat einen wundersamen Heilungsprozess durchläuft. Holmes fällt in eine totenähnliche Starre, mit der ihn Megan davor bewahrt, eine seelenlose Hülle zu werden und damit rettet. Aber Moriarty ist auch selbst nur benutzt worden: durch seinen Kontakt zum Necronomicon hat sein scheinbar ergebener Diener, der Ägypter Taher, die uralten Könige der Dunkelheit gerufen, und der High Lord des Geheimbundes ahnt sogleich abgrundtief Böses. Nur Holmes, der seit dem Ritual eine geistige Verbindung zu Moriarty spürt, kann das Grauen noch aufhalten…
Sylvain Cordurié unternimmt in seinen Erweiterungen des bekannten Holmes-Kanons bewusst auch Ausflüge in Genres, denen das literarische Original weniger geneigt war: gab es bei Conan Doyle stets logisch-sachliche Erklärungen für scheinbar übernatürliche Phänomene (nicht umsonst ist der Hund von Baskerville oft als Gruselgeschichte verfilmt, in der das titelgebende Wesen sich regelmäßig als höchst real herausstellt), geht Cordurié spätestens mit ‚Sherlock Holmes und die Vampire von London‘ direkt den parapsychologischen Weg, in dem durchaus viktorianische Horror-Elemente ganz getreu dem Genre-Prinzip dazu dienen, die gewohnte Ordnung aufzuheben und die Reaktionen der Attackierten zu untersuchen. Dabei sieht sich Holmes mit Vorgängen konfrontiert, die seine übliche Vorgehensweise der Deduktion auf den Kopf stellen: er wird aus seiner gewohnten Umgebung und aus seinem Weltbild gerissen und sieht sich mit Mächten konfrontiert, die er weder kennt noch versteht. Ganz ohne Scotland Yard und Watson – die in diese Storylines außerhalb der gewohnten Kontinuität auch gar nicht hineinpassen würden – kämpft Holmes gegen nichts weniger als die Apokalypse, die durch einen alten Feind heraufbeschworen wird, der ganz im Gegensatz zu seiner gewohnten kühl-distanzierten Überlegenheit hier von seinen eigenen Allmachtsphantasien überrannt wird, als sein Diener ihn eiskalt instrumentalisiert.
Sowohl Holmes als auch Moriarty sind mit den Geschehnissen überfordert, die Kriminalgeschichte löst sich auf und gibt den Blick frei auf existentielle Fragen von Gut und Böse, die im Holmes-Kosmos üblicherweise auf menschlich vorstellbare Verbrechen beschränkt bleiben. Damit liefert Cordurié hier eine spannende Variation zu den zeitlich nachgelagerten Geschehnissen in ‚Sherlock Holmes Society‘, wo Holmes sich zwar mit einer ebenso grauenhaften Zombie-Plage herumschlagen muss, aber dabei immer wieder auf seine naturwissenschaftlich begründete Methodik zurückkommen kann und den realistisch verorteten Fall letztlich auch so löst. Zeichnerisch ist das Ganze von Vladimir Kristic-Laci gekonnt klassisch inszeniert, und dank der Double-Ausgabe können wir uns an beiden Teilen „L’Ennemi Interieur“ und „La Nuit Sur Le Monde“ gruseln. Und mit der zeitweisen „Verwahrung“ eines Geistes in einem anderen Körper kommt sogar ein leichtes Boris Karloff/Star Trek-Flair auf. Schön. (hb)
Sherlock Holmes & das Necronomicon
Text: Sylvain Cordurié
Bilder: Vladimir Kristic-Laci
112 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22,80 Euro
ISBN: 978-3-86869-107-8