Paktierungen mit Teufeln, Dämonen und anderem Gezeug gehen für das arme Menschlein, das sie eingeht, in der Regel weniger gut aus, weidlich studieren kann man das ja in klassischer Literatur der Marke Faust. Dieser reiche Erfahrungsschatz hält aber die wenigsten machtbesessenen Subjekte davon ab, ihr „Glück“ immer wieder zu erproben, und so kommt es im England des Jahres 1870 zu einer gar wunderlichen Ausschreibung: die Mächte der Finsternis suchen sich aus verschiedenen Bewerbern ihre Repräsentanten im Diesseits aus. Der Auftrag: eine Brücke zwischen den Welten soll konstruiert werden, die den Unwesen Zugang zur Erde verschafft. Versprochen wird dafür wohl Macht und Gold (und eventuell auch ein Haus am Forum), und so schätzt sich der Sieger Ambrose Gunderson durchaus glücklich, den Zuschlag zu bekommen. Seinem Rivalen Polland passt das allerdings gar nicht, und so entwickelt sich in der Folgezeit eine richtiggehende Fehde zwischen den Parteien. Gundersons Fathers Of Realm basteln dabei eifrig an der Dimensionsbrücke, während Polland versucht, die verbleibenden Orden gegen die selbsternannten Herrscher aufzuhetzen und dabei auch nicht vor drastischen Maßnahmen zurückschreckt. Er hetzt den Fathers nämlich damönisierte Wesen auf den Hals, also Menschen, die durch übernatürliche Einflüsse mutieren und mit gewaltigen Kräften aufwarten. Aber dagegen hat Gunderson eine Wunderwaffe im Köcher: die adrette Lynn Redstone stellt sich den Monstrositäten entgegen und zerlegt sie nach allen Regeln der Kampfkunst.
Aber der Feind scheint sich auch im eigenen Lager zu tummeln: Lynns vermeintlicher Gönner Zachary wird als der Verräter entlarvt, der Pollands Kumpanen die nötigen Mittel zur Dämonisierung erst verschafft hat. Im Moment der Verhaftung mutiert Zachary selbst und flieht nach London, wohin Lynn ihn getreulich verfolgt. Gunderson selbst erwehrt sich indessen mit Hilfe des Dämons Nabazg einer ganzen Horde von Angreifern aus Pollands Lager, wobei nur Polland selbst mit knapper Not entrinnt. Während Gunderson in einer verlassenen Mine mit Hochdruck an der Fertigstellung der Dimensionsbrücke arbeitet und Nabazg selbst die Arbeiten beaufsichtigt, lockt der dämonisierte Zachary die rasende Lynn ganz absichtlich ins Atelier von Gundersons Bruder, dem Maler Marcellus, der sich vor Jahren von seinem machthungrigen Bruder entzweit hat und ihr die ganze Wahrheit offeriert: Ambrose hat die Fathers nur zu seinen Zwecken instrumentalisiert und wird Tod und Verderben über die Welt bringen. Zachary hat ganz bewusst die restlichen Orden gegen die Fathers aufgebracht, um dies zu verhindern – und Marcellus könnte in diesem finalen Kampf nun die letzte Hoffnung sein. Denn Marcellus verfügt ebenfalls über bemerkenswerte, übernatürliche Fähigkeiten: dank dämonischer Segnung kann er nicht nur künftige, noch gar nicht erschaffene Gemälde und ganze Stilrichtungen getreulich kopieren, sondern in seinen Bildern auch Portale schaffen, die Raum und Zeit überbrücken. Und überdies eröffnet er Lynn, dass sie selbst der Schlüssel ist: zur Aktivierung der Dimensionsbrücke benötigt Gunderson ein Mischwesen, halb Mensch, halb Dämon, das als Opfer herhalten muss – und niemand anders als die mit wunderlichen Kräften gesegnete Lynn hat er dabei im Sinn, denn sie ist dieses Wesen: der Mandragore…
Sylvain Cordurié leuchtet mittlerweile jeden Winkel des Grundkonzeptes „fiktives viktorianisches Zeitalter“ aus und schickt hier einmal mehr Repräsentanten der vorgeblich bürgerlichen Mitte ins Rennen gegen dämonische Kräfte, wie er dies auch schon in seinen Sherlock Holmes/Moriarty-Abenteuern mit Horror-Touch vornahm, wo es der Meisterdetektiv und seine Nemesis mit Vampiren und dem Necronomicon, dem Buch der Toten selbst, zu tun bekamen. Auch wenn im Titel (und im Klappentext) noch eine gewisse Nähe zum Holmes-Universum suggeriert wird, entfaltet Cordurié hier doch eine ganz eigene Welt, die ohne die bei ihm sonst übliche Mischung aus unterschiedlichen fiktiven Charakteren (Holmes, Dr. Jekyll, Jack the Ripper, Dracula, alle haben sie schon die Seiten seines wunderlichen England bevölkert) auskommt. Viel mehr als Conan Doyle, Robert Louis Stevenson oder andere englische Literaten steht hier denn auch der ebenso omnipräsente H.P. Lovecraft Pate, dessen Grundidee der uralten, dämonischen Herrscher, die über die Erde herfallen wollen und ihre Vasallen in den Wahnsinn treiben – allen voran Cthulhu – ebenso mitschwingt wie monsterhafte Mächte, die in Gemälden wohnen (ja, zur Abwechslung mal nicht „Dorian Gray“…), was Lovecraft schon in „The Colour Out Of Space“ aufs Erschreckendste inszenierte (spaßig verfilmt mit Boris Karloff als „Die, Monster, Die“).
Faszinierend originell gerät dabei allerdings Gundersons Fähigkeit, künftige Malstile vorherzusehen – was auch optisch wunderbare Momente ergibt, etwa als der Künstler im bewusst viktorianisch gehaltenen Atelier ein ganz offenkundig modernistisches Gemälde im Stile Picassos anfertigt. Lynn schließlich bietet unverblümte Superheroen-Action in Manier einer Black Widow, die sich schlagkräftig und akrobatisch durchs Geschehen prügelt und dabei im enganliegenden Dress eine fesche Figur abgibt. Für diese „Frau Romanow tritt Dämonen-Hintern“-Konstellation liefert Marco Santucci denn auch die jederzeit passend-stimmige Inszenierung ab, der man die Marvel-Historie (u.a. zeichnete Santucci „The Siege“ und „Im Netz von Spider-Man“) in jeder Sekunde anmerkt, die in Darstellungen von Maschinen und mechanischen Konstruktionen aber bisweilen auch an die klare Linie der franko-belgischen Tradition erinnert. Insgesamt erneut ein packender, bestens geschriebener und treffend in Szene gesetzter Beitrag zu dem, was man wohl mittlerweile mit Fug und Recht den „Cordurié-Kanon des fiktiven Viktorianismus“ nennen darf. Als Splitter Double liegen gleich beide Bände vor, die im Original schon 2013 in unsere Dimension überwechselten. (hb)
Die Geheimgesellschaft im Schatten von Sherlock Holmes: Mandragore
Text: Sylvain Cordurié
Bilder: Marco Santucci
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-383-7