Scotland Yard (Splitter)

Dezember 22, 2014

Scotland Yard (Splitter)

London, im Jahr 1889: Inspektor Gregson begleitet einen Gefangenentransport aus dem Newgate-Gefängnis. Das geht ganz gehörig schief: der Tross wird überfallen, die Lage eskaliert, Gregson wird verletzt, sein Partner Bradstreet stirbt, und zwei der gemeingefährlichsten Irren von ganz England sind auf freiem Fuß. Einer davon ist Carfax, der seine Opfer erst quält und dann mit raffinierten mechanischen Erfindungen ebenso kunstvoll wie grausam tötet. Was noch harmlos gegen den zweiten Flüchtigen ist: der hört auf den Namen Renfield und gibt dem Begriff Wahnsinn eine vollkommen neue Dimension. Von seinem Vorgesetzten Lestrade – der ihn sowieso ebenso gerne loshaben würde wie seinen Vorgänger Abberline, der sich beim grade abgeschlossenen Jack the Ripper-Fall unbeliebt gemacht hat – wird Gregson daraufhin in den Keller von Scotland Yard verfrachtet, ins Schwarze Museum, in dem der Psychologe Dr. Seward, seine Assistentin Faustine Clerval und ein Straßenjunge als bunter Haufen damit beginnen, die Spur der Psychopathen aufzunehmen.

Sehr interessiert an den Entwicklungen zeigt sich ein befreundeter Schriftsteller namens Bram Stoker, der die Erlebnisse Gregsons in einem Bericht zusammenzufassen plant. Die Hatz führt schnell ins Unterweltmilieu, das von Dr. Moriarty und seinen Kohorten um Colonel Moran dominiert wird – aber man hält die schützende Hand über den Straßenjungen, der auch schon für einen gewissen Mr Holmes tätig war, und über Faustine, die als „Engel“ den sozial Benachteiligten beisteht. Nachdem man die Helfershelfer von Carfax ausfindig gemacht hat – seine tödlichen Halskrausen lässt er bei einem Werkzeugmacher anfertigen – kidnappen diese flugs Faustine, die im letzten Moment von den Getreuen Moriartys gerettet wird und Carfax Bekanntschaft mit seinen eigenen Spielzeugen machen lässt.

Vorhang, kurze Pause, Kapitel 2: Gregson und seine Kameraden machen sich auf die Suche nach Robert Michael Renfield, der als Kind von seinen Tanten gedemütigt und gequält wurde, bis er zu einem Wesen zwischen Mensch und Tier verkam, das sich von Ratten und Ungeziefer ernährt und gerne auch mal Blut trinkt. Renfield kehrt in seine Heimat zurück, meuchelt dort den Familienarzt, der seinerzeit das Leiden des Kindes zwar sah, aber nichts dagegen unternahm, bevor er einen Drohbrief versendet, er werde ganz öffentlich einen der Friedhöfe Londons entweihen. Vorher sinnt er aber noch auf Rache an Dr. Treves, dem Psychiater, der ihn nach seiner Verhaftung in Behandlung hatte und der in ihm ein durchaus willkommenes Opfer für allerlei Experimente sah. Gregson versteckt Treves bei sich im Schwarzen Museum, als man erkennt, dass Renfield sich nach seinen Taten jeweils über die Kanalisation der Stadt davonmacht. Das alles entpuppt sich als List Renfields, der Faustine entführt (also die hat aber auch wirklich kein Glück) und in das Haus verschleppt, wo sich seine Leiden zutrugen. Faustine gelingt es noch, eine Spur für ihre Freunde zu legen, aber am Ende ist es am Straßenjungen, den vollkommen Wahnsinnigen zu konfrontieren…

Dobbs, der mit intertextuellen Verweisen und Literatureinflüssen ja bestens vertraut ist – so etwa zeichnet er verantwortlich für Mr Hyde gegen Frankenstein (dt. im Zack-Magazin) und Allan Quatermain und die Minen König Salomons (dt. bei Zack/Mosaik) – gelingt hier ein echter Kunstgriff: die Straßen seines London werden bevölkert von literarischen Figuren, die allesamt einem einzigen großen erzählerischen Hintergrund entstammen, der spätestens mit den Namen Seward und Renfield eindeutig markiert wird. Anstelle jedoch einfach die Charaktere der Romanvorlage ins Geschehen einzubauen, erschafft Dobbs ein intellektuelles Vexierspiel: der Romancier Stoker beschließt am Ende, die Geschehnisse nicht in einen Bericht zu verpacken, sondern in etwas Neuartiges –einen Schauerroman, der Abenteuer und Horror, Technik und Moderne verbindet und mit einem zentralen Monster aufwartet, das gleichzeitig Mitleid zu erregen vermag. Leider etwas überdeutlich endet Dobbs mit der Frage, wie denn das Buch heißen solle, für das Stoker die „realen“ Ereignisse und Figuren naturgemäß etwas verfremden müsse. Dass es sich hierbei um das epochale Meisterwerk um einen allseits bekannten Untoten handeln wird, müsste nicht gerade in stilisierten Lettern angebracht sein, aber sei’s drum.

Neben dieser alles überspannenden, umgekehrten Adaption eines Romans in angeblich reale Quellen (eine wirklich herausfordernde Idee) ist das Werk auch in der „echten“ Historie des viktorianischen London verankert – Jack the Ripper ist noch in aller Munde, Faustine unterhält sich auf einer Parkbank mit dem Elefantenmenschen Merrick, und gemeinsam mit Stoker besucht man eine Faust-Aufführung mit Henry Irving. Und es gibt noch mehr zu entdecken: der Gedanke der Unterwelt, die sich für die Jagd nach einem Psychopathen solidarisiert, verweist auf Fritz Langs M, die Verfolgung durch die Kanalisation kennen wir aus dem Dritten Mann, und das „Schwarze Museum“ im Keller des Yard erinnert nicht wenig an das kleine Kellerkabuff beim FBI, in dem ein gewisser Fox Mulder seinen Recherchen nachging. Nicht nur spannendes, sondern auch durchaus vertracktes, höchst durchdachtes und damit anregendes Lesematerial also, das von Stéphane Perger (u.a. Sequana, Sir Arthur Benton) zutiefst stimmig umgesetzt wird, in leicht stilisierten, atmosphärischen Bildabfolgen, in denen die Emotionalität – häufig bei Flashbacks, die in schwarz-weiß gehalten sind – oft in sich auflösenden Panels nach außen transportiert wird. Bei Splitter gibt es im Rahmen einer Double-Edition beide Bände in einem. Bestens. (hb)

Scotland Yard
Text: Dobbs (Olivier Dobremel)
Bilder: Stéphane Perger
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-033-1

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