Sherlock Holmes: Die Chroniken des Moriarty (Splitter)

August 2, 2017

James Moriarty ist tot. Zumindest ist er verschwunden, seit er mit Hilfe des Necronomicons ein Portal in die Dimension der Uralten öffnen wollte und dabei von seiner Nemesis Sherlock Holmes gehörig gestört wurde, der ihm eine Kugel in die Brust jagte. Aber die Uralten lassen seine Taten nicht ungestraft: gefangen in einer alptaumhaften Zwischenwelt, wird Moriarty bestialisch gequält, weil ihm die Uralten die Geheimnisse des Übergangs zwischen den Dimensionen entlocken wollen. Das abgründige Genie zeigt sich allerdings widerspenstig und schafft in einer tollkühnen Sekunde die Flucht zurück nach London. Dort sucht er seine alte Vertraute Meredith Rutherford auf und eröffnet ihr das einzige Ziel, das ihn beseelt: er will alle noch verbleibenden Exemplare des Buchs der Toten in seinen Besitz bringen und vernichten, um auf ewig zu verhindern, dass jemals wieder ein Nichtsahnender ein Tor zwischen den Dimensionen zu öffnen vermag.

So hehr dieses Ziel auch sein mag, so gewohnt ruppig geht Moriarty dabei vor: er engagiert den Schatzsucher Odd, der nicht viel Fragen stellt, und macht mit seiner Hilfe das erste Exemplar ausfindig. Ein gewisser Attilio Toldo benutzt es in Neapel zu allerlei Geisterbeschwörungen und schwarzen Messen. Über Toldos unvorsichtigen Gefolgsmann Giuseppe de Berti verschafft sich Moriarty Zutritt zu einer von Toldos Messen und entfesselt dort die Kräfte des Necronomicons, bevor er es in Flammen setzt. In Konstantinopel, wo ein weiteres Exemplar verborgen sein soll, finden Moriarty und Odd nur noch die Reste eines furchtbaren Massakers vor: offenbar hat eine geheimnisvolle Organisation mitbekommen, dass jemand alle Bücher des Todes vernichten will, und macht sich der verbleibenden Exemplare rücksichtslos habhaft. Die Spur führt dabei über den Atlantik nach New York, wo Joshua Sline eine legendäre Sammlung von wertvollen Artefakten unterhält. Kaum angekommen, geraten Moriarty und seine Gefährten in tödliche Gefahr…

Sylvain Cordurié hat seinen Holmes-Kosmos (treffend nennen wir es einfach Sherlockversum) weitab von jeglichen direkten Adaptionen mittlerweile so weit ausgebaut, dass er nicht nur mühelos Episoden einfügen kann, die chronologisch vor dem offiziellen Doyle-Kanon angesiedelt sind („Sherlock Holmes – Crime Alleys“, bei Splitter), sondern auch übernatürliche Elemente in seine Pastiche-Technik aus literarischen Motiven und geschichtlicher Realität einführt: schon in „Sherlock Holmes und die Vampire von London“ (Splitter) musste sein Holmes erkennen, dass das Abseitige und Grauenhafte wohl deutlich realer ist, als der Meister der Deduktion in seinen literarischen Abenteuern jemals erfahren musste. Dass Moriarty bei den Reichenbach-Fällen keinesfalls den Tod fand, sondern ganz im Gegenteil sogar ein Stück seines Geistes in Holmes Körper übertrug (wie das geht, hat Mr. Spock ja hinlänglich mit seinem Lieblingsschiffsarzt McCoy vorgeführt), das durften wir dann schon in „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ erleben, in dem Moriarty die dunklen Mächte erstmals entfesselt und ihnen letztendlich erliegt – was die direkte Basis für diese Fortsetzung liefert.

Irgendwo im Nirgendwo: Lovecraft lässt grüßen

Cordurié entwickelt dabei ein faszinierendes Psychogramm eines Genies jenseits aller menschlichen Moral, das sich als seinen Mitbürgern überlegen empfindet – und urplötzlich in der Dimension der Uralten selbst zum gehetzten Tier wird. Und so ist es denn auch weniger plötzlich entdecktes Mitgefühl, sondern Überlebenstrieb und Machterhalt, was Moriarty antreibt: er, und nur er allein, kann sich erdreisten, sich mit diesen Mächten anzulegen. Der Übermensch im reinen Sinne Nietzsches steht jenseits aller Konventionen und lebt seinen Anspruch konsequent aus – auch wenn dabei quasi nebenbei die Rettung der Welt gesichert wird, indem alle Amateure und Hobbybeschwörer radikal ausgemerzt werden. So entsteht eine Horrorstory mit Indiana-Jones-Anklängen – man jagt die Artefakte rund um die Welt – in der sich mit Meredith Rutherford und Moriartys altem Lehrmeister, dem Ägypter Taher, zwar einige alte Bekannte ein Stelldichein geben, aber die eigentlich typische Vermischung von Fiktion und Fakten auch in Form historischer Personen ausbleibt und auch der hier doch auch titelgebende literarische Protagonist Sherlock Holmes selbst erstmals in der gesamten Reihe (abgesehen von einem kleinen Cameo) keinen Auftritt hat (im Band „Mandragore“ leistete das Holmes-Motiv nur noch andeutungsweise Titelhilfe).

Dennoch bietet Cordurié (inszeniert von Andrea Fattori in seinem ersten Projekt) ein beeindruckendes und verstörendes Portrait einer finster schillernden Persönlichkeit, die in einen Strudel von Horror gerät, an dem H.P. Lovecraft seine Freude gehabt hätte (nicht umsonst sinniert Moriarty darüber, dass selbst der Tod sterben kann – und diese Lovecraft-Weisheit kennen wir ja spätestens seit dem legendären Cover der Iron Maiden-Scheibe „Live After Death“, gell?), und durch schiere Willenskraft besteht. Splitter bringt die beiden Bände „Renaissance“ und „Accomplissement“ im Double-Format, womit volle Lesefreude gewährleistet ist. Elementary? Kaum. Fascinating? Aber sehr! (hb)

Sherlock Holmes: Die Chroniken des Moriarty
Text: Sylvain Cordurié
Bilder: Andrea Fattori
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-198-7

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