John Watson geht es nicht gerade gut. Nach seiner Rückkehr vom Fronteinsatz ist der Militärarzt einsam, traumatisiert –und vor allem pleite. Da gibt ihm ein alter Freund einen guten Tipp: er solle sich im teuren London doch einfach eine Wohnung mit jemand teilen. Der entsprechende Kandidat ist auch schon zur Hand: ein etwas kurioser Typ, der im Leichenschauhaus eine Leiche mit einer Reitgerte malträtiert, um Beweise zu sammeln, und der Watson vor allem höchst persönliche Dinge auf den Kopf zusagt, ohne ihm jemals zuvor getroffen zu haben. Der gewöhnungsbedürftige, scharfsinnige Neurotiker stellt sich als Sherlock Holmes vor, der schon eine Wohnung in der Baker Street 221 im Auge hat.
Watson bleibt gar keine andere Wahl, als zuzusagen, womit die Absonderlichkeiten erst beginnen: Inspektor Lestrade von Scotland Yard sucht Holmes alsbald auf und bittet um Mithilfe. Eine ganze Reihe von Selbstmorden hat sich ereignet, die alle eine Gemeinsamkeit aufweisen: die Opfer wurden an Orten gefunden, wo sie sich zuvor nie aufgehalten hatten – und haben allesamt offenbar Selbstmord per Einnahme eines Giftes verübt. Mit Watson im Schlepptau eilt Holmes zum Tatort, wo ihn die widerwillige Yard-Mannschaft murrend als den „Freak“ empfängt, den ihr Chef immer dann anschleppt, wenn keiner mehr weiter weiß. Jennifer Wilson, das letzte Opfer, liegt in einem Hotelzimmer, gekleidet in Pink, offenbar gestorben durch Suizid, auf dem Boden eingekratzt steht das Wort „Rache“.
Während der Yard mit seinem Latein am Ende ist, blüht Holmes auf: es muss eine Verbindung geben zwischen den Taten, die er schnell als getarnte Morde entlarvt. Offenbar ist hier eine Serienmörder am Werk, der seine Opfer gezielt in den Freitod treibt – und das, so stellt der staunende Watson fest, bereitet seinem Zimmergenossen eine diebische Freude, denn bei Serienmördern kann man sich ja immerhin stets „auf etwas freuen“. Und so begibt sich Watson auf eine wilde Reise auf der Jagd nach dem Täter, denn spätestens jetzt ruft sein Kompagnon entzückt aus: „Das Spiel beginnt!“
Wenn es noch irgendeines Beweises bedurfte, dass man in Großbritannien zwar keine Häuser bauen, ein funktionierendes öffentliches Nahverkehrsnetz unterhalten oder gar ein Fenster isolieren kann, dafür aber ein Fernsehprogramm allererster Kajüte abliefert, dann trat ihn die altehrwürdige British Broadcasting Corporation im Jahr 2010 mit ihrer Neuinterpretation des klassischen Detektivs mit Pfeife und Deerstalker-Mütze an. Die Autoren Steven Moffat (der auch schon mit „Jekyll“ eine literarische Figur fürs Fernsehen adaptiert hatte) und Mark Gatiss katapultierten Sherlock Holmes mit einem Urknall in die Jetzt-Zeit und kreierten dabei eine faszinierende Aktualisierung der liebgewonnenen Zutaten, verschärft um einen Einblick in die bedenkliche Psyche dieses Herren.
Der moderne Sherlock nutzt dabei einerseits Kommunikationsmittel wie Smartphones, GPS-Navigation und einen Online-Blog (in dem er seine „Wissenschaft der Deduktion“ darlegt), durchstreift sein London aber andererseits immer noch im Trenchcoat und frönt dem Geigenspiel (und den Drogen) wie sein literarischer Vorgänger. Vor allem aber fühlt er sich seinen Mitmenschen haltlos überlegen: es müsse schon seltsam sein, mit so einem kleinen Gehirn herumzulaufen, sinniert er über die „Trottel“ vom Yard. Antisozial, leicht autistisch, bindungslos – ein Psychopath zu sein, das lehnt er allerdings ab, er selbst feiert sich als „high functioning sociopath“, was seine absonderliche Unfähigkeit zu menschlichen Beziehungen in der Tat gut umreißt.
Watson ist sein Beobachter, Chronist und Spiegel, ebenso versehrt und im Kontakt plötzlich auflebend: seine Welt sei grau gewesen, erzählt er, und Holmes habe sie wieder mit Farbe erfüllt. Die Entwicklung des Falles bietet nicht nur im Titel eine schöne Reminiszenz auf den ersten Holmes-Roman: auch in der „Studie in Scharlachrot“ findet man in London einen Toten, der in seinen letzten Sekunden das Wort „Rache“ an die Wand schreibt (was natürlich im Roman einen vollkommen anderen Hintergrund hat – welchen, wird hier nicht verraten). Holmes beobachtet akribisch, sammelt Fakten, leitet eine Theorie ab, die – so unwahrscheinlich sie auch sein mag – die Wahrheit liefern muss, wenn alles andere ausgeschlossen werden kann. Dabei tritt nicht nur sein Bruder Mycroft in Erscheinung, im Hintergrund lauert auch schon seine größte Nemesis, die ihn bis an die Reichenbach-Fälle verfolgen wird. Dabei wird die gerne vorgetragene Interpretation, Holmes und Watson seien doch ein verkapptes Pärchen, genauso aufs Korn genommen wie die Drogensucht des Meisters und seine doch irgendwann zu Tage tretende Schwäche für das andere Geschlecht.
Moffats und Gatiss‘ Geniestreich, der andere Versuche der Aktualisierung wie etwa die amerikanische Serie „Elementary“ vollständig lächerlich wirken lässt, führt Holmes und Watson in mittlerweile dreizehn Episoden – jeweils in Spielfilmlänge, um die Charaktere und Handlungsbögen ordentlich entwickeln zu können – durch geschickte Neuinterpretationen klassischer Stories, wie etwa den „Hunden (sic) von Baskerville“ oder „Im Zeichen der Drei“ und liefert dabei teilweise Cliffhanger, die das Publikum fesseln wie seinerzeit bestenfalls die Frage, wer auf einen fiesen Ölmagnaten namens John Ross geschossen hatte (das gesamte Vereinigte Königreich fragte sich monatelang, wie in aller Welt das Ende von „Der Reichenbachfall“ aufgelöst werden soll… wir auch). Die Darsteller stehen den höchst anspruchsvollen Drehbüchern in nichts nach: Herr Beutlin Martin Freeman gibt überzeugend den traumatisierten Doktor, während Benedict Cumberbatch als antisozialer Egozentriker dermaßen brilliert, dass er jüngst sogar den Doktor Strange mimen durfte.
Dem Vernehmen nach versteht man sich wohl allerdings nicht ganz so gut, weshalb eine fünfte Staffel in den Sternen steht. Da kommt dann der Mediensprung zu Hilfe: der beratende Detektiv ist auf den Comic-Seiten ja beileibe kein Fremder, entweder in ganz aktuellen direkten Adaptionen der vier Romane Doyles oder in der wilden Mischung aus literarischer Fiktion und historischen Tatsachen in den Holmes-Zyklen von Sylvain Cordurié. Fernsehserien zu Comics umzumodeln, das hat ebenso Tradition, von Star Trek über die X-Files bis hin zur Comicfassung der ebenfalls formidablen BBC-Serie Doctor Who. Während die Comicversionen von Fernsehserien allerdings üblicherweise komplett neue Abenteuer der Protagonisten bringen, liefert die Bildgeschichten-Fassung von Sherlock eine sehr genaue Version der Story, die wir von der Mattscheibe kennen, weshalb wohl auch hier vom „Drehbuch“ von Moffat und Gatiss die Rede ist.
Umgesetzt ist das Ganze allerdings durchaus ungewöhnlich im Manga-Stil, somit in Leserichtung hinten nach vorne, auf der Basis einer japanischen Serie von Einzelheften, die den Storybogen komplettieren. Mangaka Jay führt das Ganze im gemäßigten Stil aus, im typischen Schwarz-Weiß-Strich, allerdings mit klar erkennbaren und ihren Vorbildern durchaus ähnlichen Figuren. Das bisweilen bei Mangas vorliegende Problem der doch etwas fremden Gedankenführung und Motivationen (siehe etwa „Attack On Titan“ oder „Kiss My Ass“) entfällt hier, da sich die Geschichte entlang der Vorlage folgerichtig entfaltet. Der vorliegende Band enthält die Originalhefte 1-5 mit der kompletten Storyline „Ein Fall von Pink“, ergänzt um eine Covergalerie und eine kleine Skizzensammlung. Die Episoden „Der blinde Banker“ und „Das große Spiel“ bringt Carlsen im August bzw. November dieses Jahres. Vielleicht kann Sherlock als nächstes ja den Fall des rätselhaften Brexit lösen. Das wäre wahrlich elementar, liebe Mrs May. (hb)
Sherlock, Band 1: Ein Fall von Pink
Text: Jay, nach dem Drehbuch von Mark Gatiss & Steven Moffat
Bilder: Jay
212 Seiten in Schwarz-Weiß, Softcover
Carlsen Verlag
12,99 Euro
ISBN: 978-3-551-72884-5