Heldensagen gibt es viele, die Edda gehört – nicht zuletzt einer publikumswirksamen Aufbereitung zentraler Figuren durch einschlägige Comic- und zuletzt auch Leinwandabenteuer – sicherlich zu den bekanntesten. Das Ganze ist dabei nicht immer zugänglich, was jeder bestätigen kann, der schon einmal versucht, das Nibelungenlied oder den Beowulf im Original zu konsumieren (meine Erfahrung: beides versucht, bei beidem grandios gescheitert). Umso lobenswerter also, dass Multitalent und Vielschreiber Neil Gaiman 2017 seine ganz eigene Fassung der nordischen Göttergeschichten ablieferte. Das war ein eher schmales Bändchen, kurzweilig, oft sogar lustig, und so etwas wie eine hübsche Brücke zwischen dem sperrigen Urtext und den populärkulturellen Ausflügen auf den Seiten der Marvel Comics, wo Stan Lee seine ganz eigene Fassung darreichte, und zuletzt in den Epen des Marvel Cinematic Universe.
In seiner Prosa-Fassung nahm sich Gaiman einige zentrale Episoden heraus und beschrieb unter anderem den Ursprung der Asen: in Niflheim, Heimat von Surtr, gebiert der Eisriese Ymir diverse Riesen, zu deren Kindern dann auch ein gewisser Odin zählt, der in Midgard den Menschen Leben einhaucht und so zum sprichwörtlichen Allvater wird, der sein Auge für die Weisheit opfert. Auch einzelne ausführlichere Stories präsentiert Gaiman: in „Die Schätze der Götter“ muss Thor entsetzt feststellen, dass der listige Loki im Suff seiner Gattin Sif die Haarpracht abgeschnitten hat. Lokis einzige Chance, dem Zorn des Halbbruders zu entgehen, liegt in Beschaffung einer lebensechten Perücke, die der Obertrickster von diversen Zwergen anfertigen lassen will. Natürlich führt er auch dabei wieder Unfug im Schilde, der letzten Endes allerdings dazu führt, dass sowohl Odin als auch Thor mit ihren Geschenken hoch zufrieden sind – womit wir auch wissen, wie Thor zu seinem Hammer Mjölnir kam.
In „Der Baumeister“ bietet ein geheimnisvoller Fremder den Asen an, einen Schutzwall um Asgard zu errichten. Dafür will er eigentlich nur die Hand der schönen Freya, und Loki bequatscht seine Mitbewohner, doch auf das Angebot einzugehen – niemals könne der Fremde sein Versprechen einlösen, so die Logik. Aber unentwegt und mit scheinbar übermenschlicher Kraft baut der Baumeister an seinem Werk, und Loki gerät immer mehr in Erklärungsnotstand… „Die Kinder Lokis“ lernen wir ebenfalls kennen – und zwar die unehelichen, die der Chef aller Diebe mit der Eisriesin Angrboda in die Welt setzt. Odin holt die Nachkommen aus dem grimmen Jötunheim und findet für allein Plätzchen: die Schlange Jörmungandr entlässt er ins Meer, die halbtote Hel wird Oberhaupt der Unterwelt, und der bald zu gigantischen Ausmaßen angewachsene Fenris-Wolf wird von Thor zur Räson gebracht, wobei er vorher noch androht, Sonne und Mond zu verschlingen – Ragnarök lässt grüßen.
„Freyas Hochzeit“ gerät dann zu einem ganz besonderen Fest: als der König der Oger Thrym Thors Hammer stiehlt und Freyas Hand fordert (ganz schön populär, die Dame), ersinnt Loki eine List, die zur Abwechslung mal famos funktioniert… Diese Auswahl von schmissig umgesetzten Versionen bringt eine ganze Armada von namhaften Künstlern nun auch in optischer Umsetzung: P. Craig Russell, Mike Mignola, Jerry Ordway, Piotr Kowalski, David Rubin und Jill Thompson schwingen den Zeichenstift zu den Comicversionen, die Gaiman aus seiner Prosa destilliert. Dabei stehen wortkarge, eher lyrische Episoden („Prolog“, „Yggdrasil und die neun Welten“, „Mimirs Kopf und Odins Auge“) neben sehr amüsanten Short Stories, wobei vor allem „Freyas ungewöhnliche Hochzeit“ als eine Art „Some Like It Hot“-Version der Asen daherkommt, mit Thor in Frauenkleidern und Loki als geflissener Dienstmagd.
Und auch die Herkunft des Pferdes Sleipnir in „Der Baumeister“ zeigt die humorige Seite der grimmen Sagenwelt. Ergänzt mit einer Cover-Galerie (u.a. von David Mack) und einem Skizzenteil erscheint der Band (der erste von dreien) gewohnt hochwertig bei Splitter. Ideal für alle, die wissen wollen, was es denn eigentlich mit den Neun Welten auf sich hat, von denen Odin in den Thor-Filmen dauernd spricht. Und jetzt nehmen wir uns wieder mal die „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ vor, mit denen Gustav Schwab seinerzeit die Mythen der Antike so schön nahebrache wie Gaiman hier die Nordlichter. (hb)
Nordische Mythen und Sagen, Band 1
Text: Neil Gaiman
Bilder: P. Craig Russell, Jerry Ordway, Mike Mignola,
Lovern Kindzierski, Jill Thompson, Piotr Kowalski,
David Rubin, Dave Stewart, David Mack (Cover)
176 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
25 Euro
ISBN: 978-3-96792-082-6