Unverrückbare Weisheit, wenn man es im Superhelden-Geschäft zu was bringen möchte: man braucht eine Geheimidentität. Und am besten eine, die möglichst weit weg ist vom heroischen Getue, damit man über jeden Verdacht erhaben bleibt, eigentlich der Retter der Witwen und Waisen zu sein. Das ist dann mal ein schusseliger Reporter beim Daily Planet, ein schlaksiger Physikstudent oder ein blinder Rechtsanwalt. Als Stan Lee auf die brillante Idee verfiel, keinen weiteren radioaktiv verstrahlten Forscher, sondern einen veritablen nordischen Donnergott ins Rennen zu schicken, gab ein gehbehinderter, aber genialer Chirurg namens Don Blake eine genialen Gegenpart ab: der urgewaltige Ase gegen einen gebrechlichen Sterblichen. Besser wird’s nicht – weshalb es eigentlich unverständlich ist, dass die galoppierend erfolgreichen Verfilmungen des Stoffs im Zuge des Avengers-Zyklus genau diesen Aspekt vollkommen ausblenden. Im Rahmen der Reihe Marvel: Season One (bisher neun Bände), in denen diverse Zeichner/Autoren-Teams die Chance haben, bekannte Origin-Stories neu zu erzählen, stürzt sich Matthew Sturges (Jack of Fables) dankenswerterweise auf genau dieses Spannungsfeld und schafft es damit, der eigentlich sattsam bekannten Mär neue Züge abzugewinnen.
Jeder brave und gepeinigte Kenner der guten alten Condor-Taschenbücher erinnert sich gerne an die Invasion der Steinmenschen, die ein gebrechlicher Arzt abwendet, indem er in einer Höhle einen alten Stecken findet, gegen die Wand rammt und – kazoom – zum Gott des Donners wird. Was ursprünglich allerdings eher als Detektiv-Enthüllungs-Story angelegt war (warum zum Teufel hat dieser Stock magische Kräfte? Warum findet ihn ausgerecht Dr. Don Blake?), das kehrt Sturges frontal um: wir erleben die Aufmüpfigkeit des jungen Thor, der durch allerlei Kapriolen den Zorn seines Vaters Odin auf sich zieht – von seinem Halbbruder Loki wie üblich in eine Falle gelockt, bringt Thor seinen alten Herrn schließlich derart gegen sich auf, dass der seinen Thronfolger auf die Erde verbannt und ihm dort nicht nur den Uru-Hammer, sondern auch das Gedächtnis nimmt, um ihm als schwächlichen Sterblichen Demut zu lehren. Alsbald entdeckt Don Blake jedoch besagten magischen Stock, mutiert vor den Augen seiner heimlich angehimmelten Kollegin Jane Forster zum blonden Hünen und lehrt die Steinmonster das Fürchten. Derweil schmiedet Loki in Asgard weiter Ränke und bereitet eine Invasion der Eisriesen – seiner eigentlichen Blutsverwandten, hier lässt nun wieder das Filmwerk grüßen – vor. Thor schlägt diese mit seinen Kumpels Volstagg & Co. erfolgreich zurück – aber nur seine eigentlich ungeliebte Inkarnation als Dr. Don Blake kann dem verletzten Odin durch eine Rückenoperation das Leben retten.
Sturges spielt neben den bekannten Versatzstücken vor allem mit der Identitätskrise, in die Blake durch seine Entdeckung gestürzt wird: obwohl es bekanntlich nicht leicht ist, ein Gott zu sein, macht es doch deutlich mehr Spaß, er berauscht sich fast an seiner Macht, bis Jane Forster ihn daran erinnert, dass er als Mensch mehr als gebraucht wird: „jeder mag Thor“, erklärt sie ihm, „aber mein wahrer Held bist Du“. So findet Sturges trotz aller Orientierung am Filmpublikum auch für versierte Kenner der Göttermaterie neue Nuancen, die durch den bereits Thor-erprobten Pepe Larraz in kraftvollen, farbenfrohen Panels optisch ansprechend umgesetzt sind. Ein schöner Einstieg für neue Leser (und die dürften nicht zuletzt die Zielgruppe der Season One-Reihe sein), und für alte Hasen vergnüglich. (hb)
Thor: Season One
Text: Matthew Sturges
Bilder: Pepe Larraz
116 Seiten in Farbe, Softcover
Panini Comics
14,99 Euro