Alias Investigations. So heisst die Detektei von Jessica Jones, einer ehemaligen Superheldin aus der zweiten Reihe, die ihr Heldendasein freiwillig beendet hat. Und „Alias“ heißt auch die Comic-Serie im Original, die als „Jessica Jones“ für Netflix adaptiert wurde, als zweite Marvel TV-Serie nach „Daredevil“ (und vor „Luke Cage“, der sowohl im Comic, als auch in der TV-Serie mitmischt). Das Nachreichen des Comics hatte Panini bisher verpasst, war längst überfällig und geschieht nun in zwei extra-dicken (leider nur) Softcover-Bänden, die die komplette Reihe beinhalten werden, die ab Ende 2001 bei Marvel USA erschien.
Mehr wiederwillig übernimmt Jessica, nun Privatdetektivin mit Lizenz, einen Fall. Muss ja, Geld will schließlich verdient werden. Eine mondäne Dame sucht ihre vermeintlich untergetauchte Schwester. Die Aufgabe stellt Jessica vor keinerlei Probleme. Das Mädchen ist schnell gefunden. Ein Mann ist bei ihr. Ein Mann, der sich davon macht, sich auf dem Dach des Hauses umzieht – und zu Captain America wird! Was Jessica per Filmkamera festhält. Und damit nicht genug. Denn wenig später ist das Mädchen tot. Jetzt hat Jessica doch eine harte Nuss zu knacken. Spätestens als sie merkt, dass sie die Hauptakteurin in einem perfiden politischen Komplott ist… In ihrem zweiten Fall soll Jessica einen bekannten Namensvetter suchen: Rick Jones ist verschwunden, der ehemalige Sidekick des Hulk. Unter anderem. Der Zufall führt Jessica auf die richtige Spur. Doch Rick scheint seltsam verwirrt, redet unzusammenhängendes Zeug. Schließlich erfährt auch dieser Fall eine völlig unerwartete Auflösung. Szenen- und Ortswechsel. Eine Kleinstadt vor den Toren New Yorks. Rebecca Cross, eine 16-Jährige, wird vermisst. Ihre Mutter engagiert Jessica. Bald spürt die den latenten kleinbürgerlichen Rassismus, wie immer verbunden mit Ignoranz und Unwissen – v.a. gegenüber Mutanten – der in der Stadt herrscht. Zwar findet sie Rebecca, kann aber einen „echten“ Mord nicht verhindern…
Zwei abgeschlossene Einzel-Storys ergänzen die drei vier- bzw. fünfteiligen Geschichten. Zum einen ist da die Begegnung mit Jonah Jameson, der Jessica engagieren will, um (wieder einmal) Spider-Mans Geheimidentität zu enthüllen – vom Design eine Mischung aus Comic und Drehbuchdialogen in einem ganz anderen gemalten Stil mit großformatigen Bildern gehalten und dann die letzte Story, die nur aus zwei Zwiegesprächen besteht: zuerst diskutiert Jessica mit Luke Cage äußerst offen über ihr gemeinsames amouröses Abenteuer (urkomische, pointierte, explizite Dialoge – Marvel MAX machte es möglich!) und anschließend trifft sie sich endlich mit „Ant-Man“ Scott Lang, wobei als Kontrast dazu hier bei dem Date eher eine subtile Gesprächsführung angesagt ist. Überhaupt. Zwiegespräche und Dialoge. Eine der ganz großen Stärken, ein Markenzeichen von Autor Brian Michael Bendis, der mit „Alias“ ein Highlight in seiner frühen Karriere setzte. Bendis versteht sich auf die Architektur seiner Comics. Er orchestriert und konstruiert die Seiten regelrecht, wobei ihm seine Erfahrung als Zeichner zupass kommt (wer den Zeichner Bendis mal live erleben will, dem sei „Torso“, damals bei Speed erschienen, wärmstens empfohlen). Ganz viele Seiten sind dialoglastig, mit gleichen oder ähnlichen kleinen Panels, die sich entweder nur in Nuancen verändern oder – wie Schnitte beim Film – die Perspektive. Dabei verzichtet Bendis auf das übliche Superhelden-Sprech, auf die Prahlereien oder schalen Witzchen, sondern bleibt ganz im Duktus der Serie auf dem Boden, indem er seinen Figuren Dialoge in den Mund legt, die realistisch sind. Die du und ich auch wirklich so sprechen würden. Die mal komisch sind, mal tragisch, mal aufschlussreich und nicht selten die Gedankengänge und Handlungsmotive der Personen veranschaulichen.
Hinzu kommt, dass sich hier vielen (mir inklusive) die seltene Gelegenheit bietet, eine Marvel Kino- oder TV-Adaption zu sehen, und danach erst die Comicvorlage kennenzulernen. Während der Comic-Standpunkt dem von Kurt Busieks und Alex Ross‘ „Marvels“ ähnelt – die Superhelden betrachtet aus der Welt der „Normalos“ – bietet die TV-Serie weniger Berührungspunkte mit Superhelden (bis auf Luke Cage und das auch im wahrsten Sinne des Wortes) und konzentriert sich ganz auf einen Fall mit einem Schurken (Killgrave). Auch ist Jessica im TV sarkastischer, fatalistischer, etwas mehr am Boden. Nur ein einziges mal zeichnet Michael Gaydos eine Splashpage mit echten Helden im Kostüm – eine Traumsequenz mit Thor stammt von Mark Bagley – ansonsten treten Daredevil, Captain America, die Black Widow und Ms. Marvel in ihren zivilen Alter Egos auf. Kostümierte Gaststars sind eben nicht nötig, um die Serie aufzupeppen und wären wie Fremdkörper in diesem normalen Alltag, in dem selbst Jessica ihre Kräfte kaum einsetzt und ihre Supervergangenheit eher als belastend sieht. Als Gaststars kann man allenfalls die Zeichner betrachten, die hier die Geschichten und die Bilder Michael Gaydos‘ sinnvoll ergänzen und ausstatten: Bill Sienkiewicz („Elektra: Assassin“) illustriert die Biographie von Rick Jones, Mark Bagley („Der Ultimative Spider-Man“) steuert die bereits erwähnte Traumsequenz bei und David Mack („Kabuki“, „Daredevil“) sorgt für die Cover und die Collagen von Rebecca Cross – er entwarf übrigens auch den Vorspann der TV-Serie. Der abschließende Band 2 (immerhin beinhaltet Band 1 ganze 15 US-Hefte!) erscheint noch dieses Jahr. Damit liegt dann die komplette Serie vor und Panini hat dieses Versäumnis zur Freude der Leser wett gemacht. (bw)
Jessica Jones, Band 1
Text: Brian Michael Bendis
Bilder: Michael Gaydos, David Mack, Bill Sienkiewicz, Mark Bagley
356 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
30 Euro
ISBN: 978-3-95798-955-0