Eigentlich sollte jetzt alles besser werden. Denn Shadow Moon, ursprünglich wegen eines Überfalls zu sechs Jahren verknackt, wird bereits nach der Hälfte der Zeit wegen guter Führung entlassen. Während er die Stunden zählt, erreicht ihn die tragische Nachricht: Seine Frau Laura ist tot, gestorben bei einem Autounfall, gemeinsam mit seinem besten Freund Robbie. Als er sich von tiefer Trauer erfüllt auf dem Heimweg macht, trifft er den undurchsichtigen Mr. Wednesday, der ihn als Bodyguard und als „Mädchen für alles“ anheuern will und der alles über ihn zu wissen scheint. Zuerst regelrecht angewidert von dem Fremden willigt Shadow schließlich ein, auch weil er erfährt, dass Laura und Robbie seit langem ein Verhältnis hatten (was der Unfallhergang unzweideutig offenbart). Gemeinsam mit Wednesday lässt sich Shadow nun durch eine seltsame wie kuriose Odyssee treiben, deren Sinn und Zweck für ihn (und für uns Leser) noch völlig verborgen bleibt. Nur eines ist klar: es geht um ein ominöses Treffen, das Wednesday plant, organisiert und ausrichtet. In Chicago besuchen sie einen alten Schlachter namens Czernobog, der mit drei Schwestern zusammen wohnt. Dann wird Shadow Zeuge der gewagt-gewitzten Geldbeschaffungs-Massnahmen Wednesdays und schließlich besucht das Duo das mysteriöse „Haus auf dem Fels“…
„American Gods“ ist eine Comic-Fassung des gleichnamigen Romans von Neil Gaiman („Sandman“), der bereits 2001 veröffentlicht wurde. Fast gleichzeitig mit der Comic-Reihe erschien auch die TV-Adaption (bisher eine Staffel), die bei uns via Amazon Prime zu sehen ist. Geht man ohne Vorwissen an die Materie, verwirrt die Handlung, die sehr breit angelegt ist und sich in vielerlei Hinsicht (noch) auf Andeutungen beschränkt, wobei die Comic-Reihe um einiges klarer ist, als die TV-Serie – und weniger blutig. Aber genug der Vergleiche. Bei genauem Hinsehen und mit etwas Internet-Recherche können die Personen als Gottheiten alter, vergessener Mythologien identifiziert werden. Das Wort Wednesday stammt von Wotan – außerdem wird der seltsame Herr auch mit Grimnir angesprochen, ein anderer Name für Odin. Check. Und Czernobog, wie auch die Damen, die alle Zorya heißen, sind Götter und Göttinnen aus der slawischen Mythologie. Dazu mixt Gaiman amerikanische Mythen bzw, Kuriositäten, wie das House on the Rock, dessen Erbauer Alex Jordan eine schwer zu fassende Persönlichkeit war (Stichwort „Frank Lloyd Wrong“ – guter Scherz!).
Und alle Götter haben offenbar ein Problem: niemand glaubt mehr an sie. Sie agieren als mehr oder weniger normale (wenn auch schrullige) US-Bürger – wie und was immer sie dorthin auch verschlug – und schwelgen gerne in alten Zeiten. Aber es scheint auch neue Götter zu geben, die um die Gunst vermeintlicher Gläubigen buhlen, was die Episode (die in der TV-Serie wunderbar knallig daherkommt) mit dem Bit- und Byte-Buben andeutet. Shadow, der sich darauf natürlich nicht den geringsten Reim machen kann, stolpert beinahe – noch sichtlich traumatisiert vom Tod seiner Frau und deren Verhältnis – durch die Handlung, einerseits hellwach und instinktiv, andererseits lässt er teilnahmslos dem Geschehen seinen Lauf. Verwunderungen über die seltsamen Begegnungen (es werden nicht die letzten sein) sucht man bei ihm vergebens.
Die Basis und das Handlungsgerüst von Gaimans Story erinnert an „Fables“ von Bill Willingham und Mark Buckingham (auch Mike Mignola bedient sich ja gerne bei obskuren Legenden und Sagen). Dort stellten die Autoren Märchen- und Sagenfiguren aus aller Herren Länder in die Realität, hier lässt Gaiman Götter „auferstehen“, indem er sich aus diversen Pantheons bedient. Und während die Fables in Fabletown per Magie verborgen mitten in New York leben, fristen die Götter ihr Dasein „unwürdig“, unorganisiert und versprengt im ganzen Land. Gaiman geht subtiler vor, beschränkt sich auf Hinweise und Andeutungen, die die Figuren aus ihrer Vergangenheit preisgeben. Dazu gesellen sich die Gaiman-typischen verspielten magischen Szenen – zauberhaft im wahrsten Sinne des Wortes – etwa als Zorya Polunochnaya (die Himmelsgöttin des Mitternachtssterns – yup!) für Shadow den Mond vom Nachthimmel „pflückt“. Weitere Hinweise finden sich in den Vignetten, die abseits der Handlung immer wieder eingestreut und die von bekannten Gastzeichnern in Szene gesetzt werden (so inszeniert Walt Simonson hier einen Thor der ganz anderen Art…).
Überhaupt: Das künstlerische Personal setzt sich durchweg aus Hochkarätern zusammen. Unter der textlichen Oberhoheit von Neil Gaiman agieren P. Craig Russell (dessen vor ewiger Zeit erschienenen famosen Elric-Comics noch immer nicht auf Deutsch vorliegen…) und als Zeichner Scott Hampton, der das Geschehen in klare, angenehm unspektakuläre, fast stoische Panels fasst. Beide Künstler arbeiteten bereits erfolgreich mit Neil Gaiman zusammen („Sandman“, „Coraline“, „Die Bücher der Magie“) und auch hier scheint die Chemie zu stimmen. Auch die Liste der prominenten Cover-Künstler kann sich sehen lassen: Glenn Fabry, Dave McKean, David Mack und Bill Sienkiewicz! Wer wissen will, wie es weiter geht (und worum überhaupt), muss wie Shadow abwarten und sich in Geduld üben. Bei Dark Horse in den USA ist man bei Heft 9 angekommen und ein zweiter Sammelband lässt noch auf sich warten. Wer zu neugierig ist, kann mit der TV-Serie vor„schauen“, muss dann aber Odins Zorn fürchten. (bw)
American Gods, Band 1: Schatten, Buch 1 von 2
Text: Neil Gaiman, P. Craig Russell
Bilder: Scott Hampton, P. Craig Russell, Walt Simonson, Bill Sienkiewicz (Cover)
144 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-96219-001-9