Spirou in Berlin (Carlsen)

August 13, 2018

Brüssel, 1989. Andere Zeiten. Pilz-Liebhaber Graf von Rummelsdorf wird überraschend zum ersten internationalen Mykologen-Kongress nach Ost-Berlin eingeladen. Damals noch hinter dem Eisernen Vorhang. Nach reiflicher Überlegung verzichtet er, ist dann aber urplötzlich verschwunden. Als einzige Spur findet Fantasio einen Knopf mit Hammer und Sichel. Also machen sich Spirou, Fantasio und Pips auf, in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, den Grafen zu suchen. Dort, im Palasthotel, wo der Kongress stattfindet, lernen sie die vermeintlichen Vorzüge der heilen Welt des Sozialismus‘ kennen: die schönen Äpfel sind aus Wachs und hinter dem Badezimmer-Spiegel lauert die Stasi. Bald bestätigt sich der Verdacht, dass der Graf gegen seinen Willen festgehalten wird. Spirou muss sich für weitere Nachforschungen als Hotelpage (!) verkleiden und Fantasio wird von Momo, einer jungen Frau, kontaktiert, die ihm angeblich brisante Informationen zusteckt, welche unbedingt in den Westen gelangen sollen.

Jetzt wird es turbulent wie rätselhaft. Warum verschwinden große Mengen Metall aus Ostdeutschen Haushalten und werden offenbar zu Sammelstellen am Rande Ost-Berlins gebracht, wie Momo herausgefunden hat? Werden neue Waffen gebaut, um den kalten Krieg anzuheizen? Was will die Stasi vom Grafen und warum werden Spirou und Fantasio gejagt? Die Antwort kommt prompt, wobei ein alter liebster Feind der beiden sich als Drahtzieher entpuppt. Jetzt finden sich Spirou und Fantasio massiv in der Klemme und unter Zugzwang: denn eben jener chronische Bösewicht muss gestoppt werden, der Graf muss gerettet werden und raus aus der DDR will man ja auch noch…

Flix macht Spirou. Wer hätte das gedacht. Nicht nur, dass Dupuis erstmals seine Kultfigur in fremde Hände gibt – dank der Beharrlichkeit des Carlsen Verlags darf mit Flix sogar ein Deutscher Zeichner gleich ein ganzes Albun mit dem berühmtesten Hotelpagen der Welt inszenieren. Und der macht das außerordentlich, ja sensationell gut! Zuerst versetzt er die Handlung in ein Ost-West Setting kurz vor dem Mauerfall – dass Spirou in schwierige historische Zeiten passt, haben Émile Bravo und Yann mit Olivier Schwartz mit ihren Spezial-Bänden ja erfolgreich bewiesen. Und auch hier scheut Flix nicht vor derartigen Themen: Fantasio landet im Stasi-Knast, wird unsanft verhört. Überwachung und Spitzel sind überall. Und mit Major Kleinwitz schafft Flix schon als Running Gag einen bissigen und pflichtversessenen Stasi-Offizier par Excellence, quasi als Karikatur seiner selbst. Überhaupt gelingt Flix die Balance zwischen der schwierigen Thematik, actionreicher Handlung und gelungenem Witz, wovon auch viele Details zeugen: eine Pommes-Bude nennt sich Kokomiko (so hieß das Marsupilami bei Kauka), kaum in der DDR kann man die Abrafaxe erspähen und auch die beliebte Freikörperkultur bekommt einen kurzen (jugendfreien) Auftritt.

All diese kleinen Details zeugen auch davon, wie intensiv und liebevoll sich Flix mit der Materie beschäftigt. Wer sich also mit der deutschen Geschichte etwas auskennt, den Mauerfall und die Wiedervereinigung „aktiv“ erlebt hat und außerdem etwas Comic-Wissen besitzt, ist somit klar im Vorteil. Weitere Beispiele: vermeintliche Honecker-Tagebücher sehen aus wie die Einbände der gefälschten Hitler-Tagebücher, ein Rechtsanwalt Dr. Vogel ist für das Freikaufen von Häftlingen zuständig usw. Dabei vergisst Flix die lange Spirou-Historie nicht: „Wir sind doch nicht in Bretzelburg!“ ruft Fantasio entsetzt, als er in der Stasi-Zelle landet – ein Verweis auf die klassische, teutonisch geprägte Franquin-Episode „QRN ruft Bretzelburg“.

Auch die Dramaturgie passt: ganz James Bond typisch spitzt sich die Handlung für Spirou & Co. gegen Ende immer mehr zu, die Situationen und damit die Fluchtwege werden immer abenteuerlicher und irrwitziger (z. Bsp. auf dem Dach des Berliner Fernsehturms), wobei man immer wieder, auch dank des Grafen, einen Ausweg findet (auch hier bringt Flix wieder ein Verweis auf ein altes Franquin-Album). Und die Präsentation? Flix bleibt seinem Zeichenstil treu (die Farben besorgt „Schisslaweng“-Zeichner Marvin Clifford) und drückt den Figuren erfolgreich seinen optischen Stempel auf, wobei die Dramaturgie vorbildlich durch eine passende Panel-Gestaltung filmisch unterstützt wird, wie in der Szene, als sich auf der Flucht die Fahrstuhltür schließt oder die Odyssee durch die Lüftungsrohre und natürlich bei Fantasios Stasi-Verhör (Licht an, Licht aus), als sich der Drahtzieher des ganzen Übels offenbart.

In seiner Aufmachung erscheint der Band außerhalb der beiden Spirou Serien, der Spezial-Reihe und der regulären Reihe, die aktuell Yoann und Vehlmann betreuen. Und dankbarerweise spendiert Carlsen dem Album ein schniekes Hardcover. Somit fehlen leider auch die üblichen Seiten mit Sekundär-Infos und Erläuterungen. Die wären bei einer französischen Ausgabe, die im Moment – warum auch immer – nicht geplant ist, sicher sinnvoll. Zwar erklärt Flix die DDR auf einer ganzen Seite (auch für die jüngeren Leser), aber bei diesem geballten Exkurs in die jüngere Deutsche Geschichte samt entsprechenden Gags hat es die franko-belgische Leserschaft sicher nicht leicht. Aber das kann uns vorerst egal sein, zeigt Flix doch mit seinem „deutschen“ Spirou eindrucksvoll, was er auf dem Kasten hat und empfielt sich damit nachdrücklich für weitere „Aufgaben“ von gleichem Kaliber. (bw)

Spirou in Berlin
Text: Flix
Bilder: Flix, Marvin Clifford (Farben)
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
16 Euro

ISBN: 978-3-551-72115-0

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