Ein Jahr ohne Cthulhu (Carlsen)

Juni 9, 2020
Ein Jahr ohne Cthulhu (Carlsen Verlag)

Irgendwo auf dem Land, nahe Toulouse, im Jahr 1984. Samuel Le Fanu und seine Freunde, allesamt schulmüde Teenager, veranstalten gerne Pen & Paper Horror-Rollenspiele, am liebsten nachts auf dem örtlichen Friedhof. Ihr Lieblingsspiel ist Call of Cthulhu. Doch die Bürgermeisterin persönlich, der das nächtliche Treiben zu Ohren gekommen ist, verbietet Samuel und dessen Kumpel Henri alle derartigen Aktivitäten für dieses Schuljahr. Dieses ist schon fortgeschritten, als mit Melusine eine neue Schülerin in die Klasse kommt. Die hat nicht nur eine abenteuerliche Vergangenheit und Familiengeschichte aufzuweisen – ein Aufenthalt im Nahen Osten, der Vater ist ein „Druide“ und der Bruder sitzt in einer Anstalt – auch eine geheimnisvolle Aura scheint das Mädchen zu umwehen. Schnell freundet sich Melusine mit Samuel und Henri an, doch als sie zu einem Rollenspielabend nicht erscheint, kommen unheilvolle Ereignissen ins Rollen, die in einem grausamen Verbrechen gipfeln…

Es dauert eine Weile, bis die Story richtig Fahrt aufnimmt. Autor Thierry Smolderen lässt sich viel Zeit für den Aufbau der Geschichte und streut dabei immer wieder Verweise auf die Vergangenheit der Protagonisten, die später noch Bedeutung erlangen. Bis dahin charakterisiert er die jugendlichen Akteure und deren Probleme: die Ehe von Samuels Eltern ist zerrüttet, der Vater trinkt. Henri dealt mit Gras. Die gemeinsame tragische Vergangenheit von Marie und ihrer (einstigen) Freundin Oriane wird erklärt (sie stach Oriane einst ein Auge aus). Dani, der indische, ehemals beste Freund von Samuel und ein Computer-Genie, taucht nach zwei Jahren wieder auf – auch hier scheint es einen dunklen Fleck in der Freundschaft zwischen den beiden zu geben. Und aus Melusine, die einen kuriosen wie selbstbewussten Klasseneinstand liefert, wird keiner so recht schlau. Dann – langsam aber beständig – eskaliert die Situation, und Melusine rückt nach und nach ins Zentrum der Geschichte, obwohl sie gar nicht mehr aktiv daran teilnimmt.

Im Grunde haben wir es hier mit einer Krimi-Story zu tun, die mit allerlei phantastischen Elementen aus Science Fiction und Fantasy angereichert ist. So programmiert Dani eine künstliche Intelligenz, einen Avatar von sich, und das klassische Videospiel Qix spielt eine Rolle, wobei die betreffenden Sequenzen natürlich in ihrer Optik an Tron angelehnt sind (das Spiel erschien 1981, der Film entstand 1982 – zeitlich passt das also bestens). Die Rollenspielereien unter der Leitung Samuels (dessen Nachname an den Schauer-Schriftsteller Le Fanu erinnert) bringen Fantasy-/Horror-Motive ein, wobei sich gerne Spielhandlung und Wirklichkeit verwischen. Melusine schließlich sorgt mit einer komplett durchdachten und fertig entwickelten Fantasy-Welt für Aufsehen – auch hier mischen sich später Rationalität und Fantasie, was zu großen Teilen den Reiz der Story jenseits der Krimi-Handlung ausmacht. Vielmehr soll nicht verraten werden, nur das: es gibt diverse Überraschungen und Tote.

„Ein Jahr ohne Cthulhu“ markiert nach „Das Imperium des Atoms“ (das in den fünfziger Jahren spielt) und „Ein diabolischer Sommer“ (in den Sechzigern) bereits die dritte Zusammenarbeit zwischen Thierry Smolderen (u.a. „Gipsy“ mit Enrico Marini) und Zeichner Alexandre Clérisse – alle drei Bände erscheinen bei Carlsen. Nun steht also eine Hommage an die 80er Jahre an, als Heimcomputer noch in den Kinderschuhen steckten und man sich stattdessen mit Videospiel-Automaten beschäftigte. Mit seinem ungewöhnlichen, stilisierten, schematischen und kantigen Zeichenstil fängt Clerisse auch dieses Jahrzehnt gekonnt ein und verhilft der Story durch die eigenwillige, kräftige Farbgebung zusätzlich eine dämonische Note. Eine 80er Jahre Hommage und ein Krimi/Genre-Mix mit Anlaufzeit, der den Leser schließlich für seine Geduld belohnt. (bw)

Ein Jahr ohne Cthulhu
Text: Thierry Smolderen
Bilder: Alexandre Clérisse
184 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
24,99 Euro

ISBN: 978-3-551-72820-3

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