Brüssel, im Januar 1940. Der Zweite Weltkrieg hat bereits begonnen. In Belgien harrt man noch der Dinge, die da unweigerlich kommen werden. Noch ist man zuversichtlich, die Deutschen, sollten sie denn einmarschieren, mit Hilfe der Franzosen bezwingen zu können. Im Hotel Moustic, in dem Spirou als Page arbeitet und sich ständig mit dem korpulenten Portier Entresol herumärgert, macht sich der Krieg bereits bemerkbar. Die Gäste bleiben aus. Gemeinsam mit Fantasio, der als Soldat in einem belgischen Fort eine vermeintlich ruhige Kugel schiebt, trifft Spirou den Maler Felix und seine Frau Felka, er deutscher Jude, sie polnische Jüdin. Von ihr erhofft sich Spirou Genaueres über das Schicksal von seiner Freundin Kassandra zu erfahren, von der er kürzlich über verschlungene Pfade einen Brief aus dem fernen Russland erhielt. Dann, im Mai, fallen die ersten Bomben auf Brüssel. Fantasios Wohnung wird zerstört, die Menschen beginnen zu fliehen, aufs Land oder Richtung Frankreich. Schließlich besetzen die Deutschen die Stadt…
Mit diesem Band widmet sich Émile Bravo nach 2008 und dem wunderbaren „Portrait eines Helden als junger Tor“ erneut Spirou und Fantasio und schafft damit eine direkte Fortsetzung. Ging es im Vorband, der 1939, also ein Jahr früher spielte, noch um die Geheimverhandlungen zwischen Polen und Nazis, um einen Krieg zu vermeiden, ist dieser nun entfacht. Noch ist man in Belgien zwar beunruhigt, aber doch gelassen und zuversichtlich. Doch nach und nach erweisen sich diese Hoffnungen als trügerisch. Zuerst fallen Bomben, dann kommen die Alliierten in die Stadt, ziehen aber wieder ab und überlassen den Deutschen Brüssel. Auch Spirou wird mit dem Krieg konfrontiert, der sich langsam im Alltag bemerkbar macht, wenn auch zuerst meist indirekt: Die zerbombte Wohnung Fantasios, den er bei sich aufnimmt, der Maler Felix, der als Deutscher von den Belgiern inhaftiert wird (Felix Nussbaum, eine reale Person). Bravo erzählt hier keine geschlossene Geschichte, wie noch im Vorgänger. Vielmehr durchleben Spirou und Fantasio die Folgen des Krieges in verschiedenen Vignetten: die Flucht aus Brüssel Richtung Frankreich, erste Angriffe der Stukas, verletzte Soldaten, der Hunger und der Mangel, eine gefährliche Begegnung mit der Gestapo.
Während Fantasio meist den naiven Hallodri gibt (manchmal überspannt Bravo hier den Bogen etwas und lässt die Figur den Leser ganz schön nerven) und als erfolgloser Reporter weiterhin seine Chance sucht, fest von sich und seinen Qualitäten überzeugt, zeigt Spirou zutiefst humanistische Züge. Zwar lässt er sich auch von Vorurteilen lenken, korrigiert diese aber stets und setzt auf Vernunft, Verständigung und Eintracht – etwa bei seinen Landsleuten, bei Flamen und Wallonen, durch die der Keil des Nazismus getrieben werden soll, um die Lage und das Land zu destabilisieren. Am eindringlichsten verdeutlicht dies die Pfadfinder-Episode, als Spirou und die Pimpfe auf die Angehörigen einer Jugendorganisation der flämischen Nazi-Partei VNV treffen, die gerade ein jüdisches Café demolieren, wobei Spirou beherzt eingreift (hier kommt auch der Aufwärtshaken zum Tragen, den Spirou seinerzeit im ersten Bravo-Band von dem französischen Box-Champion erlernte).
Bei all dem Realismus und der gebührenden Ernsthaftigkeit angesichts der Thematik vergisst Émile Bravo den Humor nicht. Der kommt, sorgsam dosiert und platziert, in diversen Facetten: einmal fein und für Eingeweihte, eben wenn erstmals von Rummelsdorf die Rede ist, oder wenn Fantasios Tarnfrisur an einen gewissen schurkischen Cousin erinnert. Dann schelmisch, wenn – wie bereits im Vorgänger geschehen – Spirou aufgrund seines Outfits (also praktisch jedes Mal, wenn er seine gewohnte Pagenuniform ablegt) für eine Kopie von Tintin/Tim gehalten wird. Oder brachial, wie bei der finalen Szene mit dem Portier Entresol (der in Design und Statur einem Emil Jannings aus Murnaus „Der letzte Mann“ ähnelt), die ebenso makaber wie komisch ist. Am Ende, als Spirou auf Solopfaden wandert, driftet Fantasio gefährlich in die Ideologie der Besatzer ab (ob scheinbar oder ernsthaft wissen wir noch nicht) und zeigt ein zunehmend seltsames Verhalten. Und auch das Schicksal von Spirous Freundin Kassandra ist noch ungeklärt. Fortsetzung folgt. So episch wie gewiss, immerhin umfasst der erste Teil ganze 86 Comicseiten (die leider nur als Softcover erhältlich sind).
Für Freunde der Serie und der Figur des Spirou bietet Carlsen in diesem Jahr hervorragenden wie erfrischenden Lesestoff. Kaum eine Serie, kaum eine klassische Comic-Figur wird zurzeit so vielfältig und gewinnbringend interpretiert. Ob als eine Art Prequel („Sein Name war Ptirou“, im Spezial-Band 25), in einem mitreißenden, von Flix inszeniertem, exklusiven deutschen Abenteuer („Spirou in Berlin“) oder hier wieder ganz klassisch in einem Stil, der an die Ligne Claire von Hergé erinnert (die Tim-Anspielungen kommen also nicht von ungefähr). Und dann gibt es ja noch die Spirou-Gesamtausgabe, in der die Geschichten aus der Feder André Franquins abgeschlossen vorliegen und die sich nun dessen Nachfolger, Jean-Claude Fournier („Bizu“) widmet. Goldene Zeiten für Spirou-Leser. (bw)
Spirou und Fantasio Spezial, Band 26: Spirou, oder: die Hoffnung, Teil 1
Text & Bilder: Émile Bravo
96 Seiten in Farbe, Softcover
Carlsen Verlag
14 Euro
ISBN: 978-3-551-77656-3