„Soll das ein Witz sein?“ schoss Jean-Claude Fournier nach eigenen Worten als erstes durch den Kopf, als ihm 1968 Verlagschef Charles Dupuis ein wahrlich unerhörtes Angebot unterbreitete. Ausgerechnet er, noch recht neu im Comic-Geschäft (seine erste eigene Reihe „Bizu“ lief gerade an, mit mäßigem Erfolg beim Leser), dazu ein in Paris wohnender Bretone, soll den heiligen Gral des belgischen Verlagshauses übernehmen: Spirou & Fantasio. Über 20 Jahre von André Franquin betreut, zu ungeahnten Höhen und damit zu Ruhm geführt. Franquin selbst, der von der Figur des Spirou, an der er keine Rechte besaß (sie gehört bis heute dem Verlag), die Nase gestrichen voll hatte, riet Fournier davon ab und empfahl ihm, sein „eigenes Ding zu machen“, doch Fournier nahm schließlich den Vorschlag von Dupuis an, nicht zuletzt, weil er sich damit ganz unverhofft einen Kindheitstraum erfüllen konnte.
Fourniers erste Spirou-Geschichte ist „Die Goldmacher“ von 1969. Um den zu erwarteten Bruch und die entsprechenden kritischen Reaktionen der Leser abzumildern und so den Übergang von Zeichner zu Zeichner flüssiger zu gestalten, stimmte Franquin der Verwendung des Marsupilamis zu, einer Figur, die ihm gehörte. So koordinierte er die Auftritte des Marsupilamis und zeichnete die Figur selbst in die jeweiligen Panels. Die Story: das Zauberbuch des Alchemisten Johann Güldenburg (im Original Nicolas Flamel, ein französischer Alchemist, der im 14. Jahrhundert lebte) befindet sich im Besitz des Grafen von Rummelsdorf. Zantafio, der schurkische Cousin Fantasios, bekommt davon Wind und bringt mit seinen Schwergen erst den Grafen und dann den besagten Folianten in seine Gewalt. Neben dem Marsupilami, das hier wieder das Zünglein an der Waage spielt, tritt noch einmal das gewohnte und inzwischen etwas strapazierte Franquin-Ensemble auf: Zyklotrop wohnt noch immer bei Rummelsdorf (siehe „Schnuller und Zyklostrahlen“ aus Band 8 der Gesamtausgabe) und Zantafio spielt den Bösewicht. Schon im nächsten Album, in dem Fournier seinen eigenen Weg einschlägt, wird sich das ändern.
Denn nach einer rührigen Weihnachts-Kurzgeschichte präsentiert Fournier mit „Der japanische Champignon“ einen abgeschlossenen Prolog zum neuen albumlangen Spirou Abenteuer „Zucker im Tank“ (1970/1971, 58 Seiten), in dem der japanische Pilzforscher und Zauberkünstler Itoh Kata eingeführt wird, sowie die mächtige Verbrecherorganisation Triangel, deren omnipräsente Mitglieder sich anonym mit Nummern anreden, was an Marvels Hydra oder an diverse James Bond Feindgruppen erinnert. Itoh Kata entdeckt einen für ausgestorben gehaltenen Pilz, mit dem die Triangel die Weltherrschaft erringen könnte. Kata will den Pilz seinem berühmten Kollegen Rummelsdorf übergeben, eine Aufgabe, für die er Spirou und Fantasio auserkoren hat, die dazu nach Japan reisen.
Aber bis es soweit kommt, jetzt in „Zucker im Tank“, geht natürlich einiges schief. Noch in Japan macht die Triangel (man begrüßt sich untereinander ganz bescheiden mit „Lang lebe die Triangel“) Jagd auf Spirou und Fantasio (und Pips), die vermeintlichen Pilzkuriere, was in einer witzig-hitzigen Verfolgungshatz durch den Tokkaido Express actionreich auf die Spitze getrieben wird. Doch auch zurück in der Heimat ist die Triangel schon vor Ort, inkl. des kuriosen Auftrittes eines bayerischen Mitglieds. Auch hier kommt wieder ein Zug zum Einsatz, mit dessen Hilfe die Triangel ein Attentat verüben und Itoh Kata beseitigen will. Hier zitiert Fournier unverblümt den spektakulären Eisenbahnunfall am Gare Montparnasse im Jahr 1895, als eine Dampflok die Mauer des Bahnhofs durchbrach und auf die Straße stürzte. Der seltene Pilz, der als MacGuffin die Handlung auslöst, bekommt am Ende durch das wissenschaftliche Genie des Grafen noch eine große Bedeutung, die auch den Titel des Albums erklärt.
Nach einem kurzen Soloabenteuer mit Pips folgt nun das Album „Zauberei in der Abtei“, 1971/1972 entstanden. Wieder mit Itoh Kata und wieder mit der vermeintlich besiegten Triangel, die sich als unverwüstlich erweist. Denn Bruno Boswick, ein hochrangiges Mitglied der Truppe, taucht unvermittelt bei Spirou und Fantasio auf und will die beiden für die Verbrecherorganisation rekrutieren. Die lehnen natürlich dankend ab, weshalb Boswick als Meinungsverstärker Itoh Kata entführen lässt. Die Spur führt unsere Freunde in ein verlassenes Dorf, in dem es angeblich spuken soll, in dem sich aber die Triangel-Sektion um Boswick eingenistet hat. Die Handlung wechselt zwischen Spirou und Fantasio, die ihren japanischen Freund suchen und befreien wollen, und die sich dabei mit allerlei technischem Triangel-Schnickschnack herumschlagen müssen und Itoh Kata, der seine Bewacher immer wieder zur Verzweiflung treibt, da er als alter Zauberkünstler jedem Gefängnis und jedem Bewacher scheinbar nach Belieben entkommen kann (und immer wieder für den Running Gag mit der tiefen Verbeugung sorgt).
Fournier bringt hier etliche Slapstick-Elemente, wodurch die Handlung in dem alten Gemäuer immer wieder in Klamauk abdriftet. Während „Die Goldmacher“ noch von Franquin geprägt war, bleibt „Zucker im Tank“ mit dem fernöstlichen Touch das Highlight dieses Bandes der Gesamtausgabe. Fournier gibt also gleich zu Beginn seiner „Spirou-Periode“ eine gute Figur ab und erweist sich als würdiger Nachfolger Franquins. Der wird in der abschließenden Kurzgeschichte „Überraschung, Papa!“ von seinen Figuren, die er für Spirou erdachte, überrascht und geehrt. Der wie stets ausführliche Sekundärpart erstreckt über 30 Seiten und hat natürlich den „Neuen“ zum Thema. Wir erfahren Details über die Jugend und das Leben von Jean-Claude Fournier und vor allem über seinen Werdegang bei Dupuis, eigentlich als bescheidener Nachwuchszeichner, als Neuling, dem aus heiteren Himmel das Zugpferd des Verlages anvertraut wird (die Gesamtausgabe von Fourniers Eigenkreation „Bizu“, die deshalb lange pausieren musste, erscheint in drei Bänden in der Egmont Comic Collection). Anhand etlicher Skizzen und Abbildungen wird geschildert wie fließend und weich die beiden Zeichner den Übergang und damit den Generationswechsel innerhalb der Serie vollzogen. Und wie bescheiden und hilfsbereit sich der große André Franquin dabei einmal mehr gab. (bw)
Spirou und Fantasio Gesamtausgabe, Band 9 (1969-1972)
Text: Jean-Claude Fournier
Bilder: Jean-Claude Fournier, André Franquin
240 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
30 Euro
ISBN: 978-3-551-71629-3