Ende 1947: in der russischen Zone Berlins tauchen Papiere der noch immer verschwundenen Assunta auf. Die Informationen gelangen an Thomas, der in Lüttich mit den Amerikanern massive Schwarzmarktgeschäfte betreibt. So erfährt der, dass Assunta in der Sowjetunion auf dem Gebiet des heutigen Kasachstan in einem Straflager interniert ist. Und: eine „reguläre“ Freilassung scheint aufgrund der politischen Lage, die sich zwischen Ost und West immer mehr zuspitzt und den kommenden eisernen Vorhang bereits erahnen lässt, ausgeschlossen. Daher wählt Thomas einen anderen Weg: Geld. Er will den Lagerkommandanten bestechen (lassen), Assunta freikaufen und forciert deshalb seine Schwarzmarktgeschäfte. Derweil knüpft Lucie, die für die Amerikaner in Berlin arbeitet, erste Kontakte in den Ostteil der Stadt, um ein Netzwerk aufzubauen, an dessen Ende die Geldübergabe und damit die Freilassung Assuntas stehen soll…
Mit dem neuen Zyklus – wieder ein Zweiteiler – verlässt die Reihe nun endgültig das heimische Belgien und damit das beschauliche Dörfchen La Goffe samt Hôtel des Roches und spielt zu Teilen im besetzten, wie zerstörten Nachkriegs-Berlin und als Gegensatz dazu im prächtigen Paris, in dem auch das politische Leben floriert. Denn mehr als in den Vorbänden spielt die Politik hier eine Rolle. Zum einen wird dem Leser in einem kurzen Abriss die Lage Berlins geschildert, mit seinen Besatzungszonen, seinem Schwarzmarkt, seinem Mangel. Die Grenze zur russischen Zone ist noch durchlässig, aber die Fronten zwischen Ost und West beginnen sich bereits zu verhärten. In Paris kritisieren die Kommunisten die vermeintlich imperialistische Politik der Amerikaner und den Marshallplan, während man in Belgien heftig über eine mögliche Rückkehr des in Ungnade gefallenen Königs aus dem deutschen Exil diskutiert (die ja dann 1950 auch erfolgte). Und die Blockade Berlins im Juni 1948 macht Thomas‘ riskantes Vorhaben nicht unbedingt einfacher.
Auch im zwischenmenschlichen Bereich hat sich einiges inzwischen getan. Thomas „hält“ sich eine junge Freundin, Marie-Louise, kämpft aber verbissen für Assunta, die die Liebe seines Lebens zu sein scheint. Alice, um die er damals mit seinem Bruder Charles stritt, spielt erneut nur mehr eine Nebenrolle. Auch menschlich ist Thomas zu Beginn der Handlung am Boden. Er verwahrlost zusehends, äußerlich und charakterlich; hat keinen Draht zu seiner farbigen Tochter Bernadette, die er aus dem Kongo nachholte und die inzwischen bei ihm lebt. Er behandelt sie nicht wirklich gut und sucht auch sonst mit jedem Streit, selbst mit seinem besten Kumpel, Pater Joseph. Auch macht er sich Vorwürfe, am Tod seines Bruders mit verantwortlich zu sein. Erst als er von Assuntas Verbleib erfährt, lässt ihn das Ziel ihrer Freilassung wieder erstarken. Derweil lernt Lucie in Berlin, dass nicht alle Deutschen Nazis sind oder waren. Auch sie ist noch nicht darüber hinweg, dass ihr amerikanischer Verlobter vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall starb.
Und Assunta ist eigentlich ein politisches Kuriosum. Als spanische Kommunistin, die in ihrer Heimat einst von den Faschisten verfolgt wurde, sitzt sie ausgerechnet in der kommunistischen Sowjetunion ein, weil die Russen alle in Belgien gemachte Gefangene über einen Kamm scheren und sie als belgische Kollaborateurin ansehen. Éric Warnauts und Guy Raives, Zeichner und Autoren in Personalunion, servieren hier erneut eine gelungene Geschichtsstunde, die erfolgreich die belgischen Gefilde der beiden Vorbände verlässt und der Politik eine größere Rolle einräumt. An die wunderbaren, bunt-opulenten Zeichnungen hat man sich inzwischen schon fast gewöhnt, die hier zwischen belgischer Idylle und zerstörtem Nachkriegs-Berlin wechseln. Und Lucie ähnelt auch Frisur-technisch immer mehr Lauren Bacall. Kundige Leser entdecken ein Logo, das auf ein Werk von Schuiten und Peeters, bzw. eine Galerie verweist. Und am Ende lässt sich die künstlerisch begabte Bernadette von Hergés „Tim im Kongo“ inspirieren. Band 4, der den Zweiteiler abschließt, ist in Vorbereitung. (bw)
Zeitenwende – Nach dem Krieg, Band 1
Text & Bilder: Éric Warnauts, Guy Raives
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
17 Euro
ISBN: 978-3-7416-0675-5