Berlinoir (Carlsen)

November 28, 2013

Berlinoir

Berlin mal anders. Die Stadt heißt hier Berlinoir und wird von Vampiren regiert. Und die mögen es nun einmal dunkel. Ganze Straßenzüge werden lichtsicher abgedeckt und Wälder gerodet, damit kein Mensch auf die Idee kommt, Holzpfähle zu schnitzen. Um die herrschende Vampirklasse und deren Obervampir Szerbenmund zu versorgen werden die Normalbürger zur Ader gelassen, ob sie wollen oder nicht. Eine Herrschaft mit stark faschistoiden Zügen. Klar, dass sich im Untergrund der Widerstand der Menschen formiert. Attentate auf die Vampiroberen sind keine Seltenheit. Einer der Menschen-Rebellen ist Niall. Bei einem Anschlag begegnet er der Vampirin Hellen – und verliebt sich in sie. Doch sein Ziel bleibt weiterhin Szerbenmund… (Teil 1: Scherbenmund). Im zweiten Teil wird Mardocles Nachfolger von Szerbenmund und damit Herrscher von Berlinoir. Auch er fällt einem Attentat zum Opfer – sein Gesicht wird durch die Sonne völlig entstellt. In der Stadt wütet ein Serienkiller. Man ist beunruhigt und will ihn zur Strecke bringen. Wir sehen auch den ersten Auftritt von Radra Cadressis, eine Hardliner-Vampirin, die zur Generälin von Berlinoir befördert wird. Niall spielt hier nur eine Nebenrolle (Teil 2: Mord!). Im abschließenden dritten Teil (Narbenstadt) reißt Cadressis die Hälfte der Stadt an sich und regiert dort mit eiserner Hand. Mardocles muss ihrem Treiben ohnmächtig zusehen, bis Niall, inzwischen zum Vampir geworden, sich der Generälin entgegen stellt, um die Stadt wieder zu einen.

Eigentlich ist Berlinoir ein Vorreiter. Denn als 2003 der erste Band des Dreiteilers, der nun als Sammelband (neudeutsch: Gesamtausgabe) vorliegt, bei Edition 52 erschien, war die Vampirwelle noch nicht zu uns herübergeschwappt (im gleichen Jahr erschien bei uns auch 30 Days of Night). Die Story ist angenehm vielschichtig. Wie zu Zeiten der DDR ist das vampirische Berlinoir eine politische Insel in Deutschland. Und nicht nur einmal wird hier deutsche Geschichte zitiert. Werden in Band 1 Parallelen zur Nazizeit gezogen, bringt Band 3 eine Variante der Deutschen Teilung (Diesmal Nord und Süd). Dazwischen beinhaltet der zweite Teil eine schöne Hommage an Fritz Langs frühen Tonfilmklassiker M von 1930 (man beachte das original Titelbild). Die Architektur und das Design von Metropolis (D 1927), ebenfalls von Lang, ist allgegenwärtig und bestimmt das Stadtbild von Berlinoir. Und der Anfang von Band 1 kopiert ganz ungeniert und trotzdem passend den des teuersten deutschen Stummfilms. Doch ein Mittler zwischen Hirn und Händen sucht man hier vergebens. Menschen und Vampire – da kann es kein Happy End geben.

Zeichnerisch ist hier alles Handarbeit. Das weiß man bei Kleist zu schätzen, der inzwischen ein Star in der deutschen Comicszene ist. Mit seinen Büchern über Fidel Castro, Johnny Cash und zuletzt der faszinierende Band über den jüdischen Boxer Hertzko Haft hat er sich eine große Fangemeinde „erzeichnet/erschrieben“. Nicht nur im Bereich der Comicleser. Hier zeichnet er nach einem Skript des Berliner Autors Tobias O. Meißner (Die Dämonen). Die Neuauflage ist damit eine gelungene Ergänzung für alle Kleist-Fans, die dieses „Frühwerk“ von der Erstveröffentlichung noch nicht kannten. Ein wenig ergänzendes Zusatzmaterial und Skizzen/Entwürfe (würde sich bei den filmischen Vorbildern ja anbieten) hätten aus dem Sammelband eine echte Gesamtausgabe gemacht. (bw)

Berlinoir Gesamtausgabe
Text: Tobias O. Meissner
Bilder: Reinhard Kleist
152 Seiten in Farbe, Hardcover
Carlsen Verlag
24,90 Euro

ISBN: 978-3-551-75108-9

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