Jeder auch nur halbwegs interessierte Comicfreund kennt sie: Joe, William, Jack und Averell Dalton. Die Orgelpfeifen-Brüder in ihren gelb-schwarz gestreiften Sträflings-Uniformen, die immer wieder erfolglos oder gar dilettantisch versuchen, Lucky Luke das Leben schwer zu machen und am Ende stets grandios scheitern. Was hingegen nicht jeder weiß: sie existierten wirklich, die Gebrüder Dalton. Natürlich ganz anders als ihre Comic-Parodien. Sie hießen Bob, Grat und Emmet – das waren die, die Mitglied der Dalton-Gang waren. Dann gab es noch Frank, der vorzeitig erschossen wurde und Bill, der Mitglied einer anderen Bande war. Interessant auch: die Herren haben eine durchaus tragische Vita aufzuweisen: als US-Marshals standen sie zunächst auf Seiten des Gesetzes, wechselten dann aber beinahe fließend auf die dunkle Seite der Macht und wurden zu Outlaws, deren gesetzlose „Karriere“ lediglich drei Jahre währte, ehe ihnen das übliche Ende widerfuhr, das Revolverhelden eben damals so zuteilwurde. Trotzdem reichten die drei Jahre aus, um sie zu schillernden Figuren des Wilden Westens zu machen.
Der Auftakt dieses Zweiteilers ist gleichzeitig sein Ende. Und das der Dalton-Gang: am 5. Oktober 1892 planten die Desperados in der Stadt Coffeyville in Kansas am hellichten Tag gleich zwei Banken auszurauben – ein ambitioniertes Unterfangen mit tödlichem Ausgang. Mitten in einer wüsten Schießerei bricht die Handlung ab und wir begeben uns fünf Jahre zurück, als die Daltons noch ehrbare Bürger waren. Ma und Pa Dalton hatten elf Kinder. Frank, einer der älteren, der als Marshal im Indianergebiet tätig war, wurde gerade erschossen. Seine Brüder Bob und Grat sind ebenfalls Marshals und auch Emmett, der jüngste Spross, möchte in diesen Weg einschlagen. Doch er wird von Bob immer auf Abstand – sprich: außer Gefahr – gehalten, wenn es mal brenzlig wird. Dann, im Jahr 1890, geschehen diverse Dinge, die die Brüder langsam aus dem Tritt bringen: Zuerst quittiert Grat seinen Dienst. Dann erfahren die Dalton-Marshals, dass der Staat sie gerade nicht bezahlen kann. Schließlich wird Emmett schwer verletzt und Bob bringt versehentlich einen falschen Verdächtigen um. Auf der Suche nach neuer, gut bezahlter Arbeit geraten sie – zuerst unwissentlich – an die Bande von Charley „Black Face“ Bryant und danach endgültig auf die schiefe Bahn…
Nach dem fulminanten Auftakt mit der Schießerei in Coffeyville werden in episodischen Rückblenden wichtige und einschneidende Ereignisse im Leben der Brüder – v.a. von Bob und Emmett – geschildert. Der vermeintlich sichere und redliche Job eines Marshals, der beinahe traditionell familienintern ergriffen wird, wird erstmals mit dem Tod Franks hinterfragt. Dabei wollen die Dalton-Sprösslinge nur mit guten Absichten ihren Platz in der Gesellschaft sichern. Die Familie ist arm, der Vater ein hoffnungsloser Säufer. Geld regiert die Gedanken. Geld, das beispielsweise Emmett braucht, damit er um die Hand seiner Liebsten bei deren Vater anhalten kann. Dazu kommt noch einiges an Pech, falsche Entscheidungen und der Lockruf des Bruders Grat nach einer besseren und v.a. besser bezahlten Arbeit. Beinahe aus Versehen sind die Brüder dann in den ersten Überfall involviert. Man schlittert förmlich auf die falsche Spur, die von Emmett verheißungsvoll als Überholspur gedeutet wird („Wie lange müsste man für einen solchen Batzen Geld arbeiten, wenn man einen Dollar am Tag verdient?“). Das Fass der Rechtschaffenheit läuft über. Die Dalton Brüder sind Opfer der Umstände, des Systems und der Gier. Der abschließende Band 2 wird dann wieder zum Ende zurückkehren, zur finalen Schießerei in Coffeyville. Nur Emmett wird, von zahlreichen Kugeln getroffen, überleben und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Als er vorzeitig entlassen wird, schreibt er ein Buch über sein Leben und arbeitet u.a. beim Film, wo er sich in einem frühen Western selbst spielt. Er stirbt erst 1937.
„Die Daltons“ ist Olivier Visonneaus erste Comic-Arbeit. Er stellt die Revolverhelden, die man in der Regel nur als Karikaturen aus Lucky Luke kennt, ins rechte, bzw. unrechte Licht. Sein Zeichner, der Spanier Jesús Alonso Iglesias, von dem bereits „Gaudis Gespenst“ bei Salleck erschien, besticht dabei mit einem semi-realistischen Stil, mit breiter, kräftig schwarzer Linienführung und ist so nicht hundertprozentig, v.a. bei den Personen und Gesichtern, dem Realismus verpflichtet (ähnlich wie „Esteban“ von Matthieu Bonhomme oder „Moby Dick“ von Pierre Alary) oder gar der beinahe „angestammten“ franko-belgischen Western-Tradition eines Blueberry (aktuelles Beispiel: Apache Junction von Peter Nuyten). Trotzdem ist die Darstellung des (späten) Westens auch atmosphärisch gelungen, mit all seiner Armut, seinem Dreck und seiner Gewissenlosigkeit. Die raren Stimmen der Vernunft, meist von lebenserfahrenen, älteren Herren, bleiben dabei auf der Strecke. Die episodische Struktur mit den Zeit- und Ortssprüngen verhindert dabei eine tiefere Charakterisierung der Brüder, wenngleich die Beweggründe für die Desperado-Karriere klar werden, siehe oben. Aber hier stand Visonneau vielleicht auch die mangelnde historische Überlieferung im Weg, weshalb der Handlung stets auch ein dokumentarischer Charakter durchscheint. Ein gelungener, ungewöhnlicher Western mit origineller Thematik. (bw)
Die Daltons, Band 1: Der erste Tote
Text: Olivier Visonneau
Bilder: Jesús Alonso Iglesias
56 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
14,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-493-3