„Nennt mich…Ismael.“ Mit diesen kurzen Worten beginnt ein monumentaler Reigen von Rache, Überheblichkeit und grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz, der sich wie kaum ein Werk der Weltliteratur ins kollektive Bewusstsein gebrannt hat. Dies allerdings weniger in seiner ursprünglichen Inkarnation – die wenigsten werden Herman Melvilles ausladendes Epos, in dem es nur teilweise um die besessene Jagd nach einem Wal geht, in Gänze gelesen haben – sondern in gekürzten Kinder-/Jugendversionen oder vor allem in der Verfilmung, die wir trotz der grandiosen zentralen Fehlbesetzung sowie der völlig verhunzten Spezialeffekte immer wieder atemlos verfolgen, schon alleine, um Orson Welles predigen zu sehen. In der Phase, als die Bildgeschichten (wie schon das frühe Kino) noch versuchten, sich durch literarische Inhalte zu „adeln“, gab Melvilles Roman auch daher eine dankbare Vorlage ab und wurde schon 1956 als Illustrierter Klassiker umgesetzt. Auch Will Eisner fühlte sich zu einer Adaption berufen, und so stehen Olivier Jouvray (u.a. Fluchttunnel nach West-Berlin) und Pierre Alary (u.a. SinBad, Belladonna) in bester Tradition, wenn sie uns ihre ureigene Version der Geschehnisse auf dem Walfänger Pequod darbringen.
Dabei gehen sie gar nicht so „frei“ vor, wie das der Untertitel suggeriert – vielmehr spiegelt ihre Fassung die verbreitete Rezeption des Romans: man schält die Hauptelemente der Geschichte heraus und isoliert sie von den ausladenden Beschreibungen der Walfangindustrie, des Seemannslebens und der Walgattungen, die bei Melville zig Seiten füllen. Somit erleben wir eine Version, die auch relativ nah an der Filmfassung bleibt: Ismael verdingt sich nach einer unheimlichen Nacht in einem Zimmer mit dem gewaltigen Harpunier Queequeg auf der Pequod und erkennt bald, dass es sich hier nicht um eine normalen Walfangreise handelt, sondern um den obsessiven Kreuzzug von Kapitän Ahab, der den weißen Wal Moby Dick durch die Weltmeere jagt, um sich an ihm zu rächen. Man trifft andere Schiffe, lehnt Hilfeaktionen ab, erlegt diverse Meeressäuger, Ahab nagelt eine Golddukate an den Mast und lobt sie als Belohnung für den aus, der den Wal als erster sichtet. Elmsfeuer umspielen das Schiff und den Besessenen, die Mannschaft folgt ihm in die sprichwörtliche Hölle, bis im apokalyptischen finalen Kampf Mann und Maus in den Untergang gerissen werden – bis auf Ismael, der auf Queequegs Sarg schwimmend überlebt.
Das ist in jedem Moment so biblisch und faustisch wie die Vorlage: wie Jonah wird Ahab vom Leviathan (wie der Wal öfter bezeichnet wird) buchstäblich verschluckt, seine Seele wird durch die Jagd zerfressen, wobei im Gegensatz zur biblischen Geschichte keine Läuterung, sondern der Tod am Ende steht. Ahab fordert die Götter heraus, steigert sich in einen Prometheus-artigen Rausch hinein und verliert darüber den letzten Rest jeder Menschlichkeit – seine körperliche Versehrtheit steht symbolisch für seine verlorene Humanität, im weißen Wal versucht er, wie der fliegende Holländer über die Meere irrlichternd, seine eigenen Dämonen zu töten, die ihn schlussendlich gnadenlos einholen. Also, wenn das mal nicht modern ist… Olivier Jouvray wählt dabei schlaglichthaft die entscheidenden Szenen aus, eine in Film wie Comic absolut legitime Vorgehensweise, ein Epos zu bändigen. Pierre Alary inszeniert die Odyssee in leicht stilisierten Panels, in denen einzelne Farbtöne dominieren, ähnlich einem viragierten Stummfilm: die Nacht erscheint blau, Szenen um die Waljagd erstrahlen blutrot, um in einem feurigen Finale zu enden. So entsteht – von Splitter als Hardcover im Graphic Novel-Format schön eingerichtet – ein ebenso rasantes wie tiefsinniges Lese-Erlebnis, das eine mehr als nur valide Interpretation des Romans bietet. Und glaubt mir: der ist ausführlich. Sehr ausführlich. (hb)
Moby Dick
Text: Olivier Jouvray; nach Herman Melville
Bilder: Pierre Alary
128 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-043-0