Dr. Watson (Splitter)

April 20, 2018

Watson trauert. Untröstlich ist er über das Schicksal seines Freundes Sherlock Holmes, der seit den Ereignissen an den Reichenbachfällen verschwunden ist und als tot gilt. Die Leiche wurde nie gefunden, man begräbt einen leeren Sarg, aber Watson kommt mit dem Verlust nicht zurecht. Er vergräbt sich in Erinnerungen, Alkohol, besteht darauf, die Räume in der Baker Street nicht anzurühren, auch wenn er selbst dort nicht mehr wohnt, seit er mit Mary verheiratet ist. Fast schon aus Gewohnheit sagt er einem Besucher auf den Kopf zu, dass der wohl Fotograf sein müsse und an irgendeiner Vergiftung leide – die Wissenschaft der Deduktion hat eben auch auf Holmes‘ alten Gefährten abgefärbt. Quasi als Selbsttherapie nimmt Watson die Fährte auf und entlarvt schnell einen rivalisierenden Fotografen, der seinen unliebsamen Konkurrenten durch Chemikalien langsam und schleichend vergiftet. Bei einem der Bilder, die bei den Ermittlungen entstehen, traut Watson seinen Augen kaum: klar und deutlich steht da die unscharfe Form seines verschwundenen Freunds hinter ihm.

Genervt schickt Mary ihren Mann, der davon überzeugt ist, Holmes‘ Geist erspäht zu haben, zu einem Medium, damit ein für alle Mal Ruhe ist. Bei dieser Séance tritt Watson dann – wie auch immer – in der Tat mit Holmes in Kontakt: sein alter Feind Moriarty stecke hinter allem, offenbart ihm die Stimme aus der Geisterwelt: Moriarty halte seinen Leichnam in London versteckt, um durch finstere Rituale ein friedliches Ruhen zu verhindern und auch noch Holmes‘ Seele zu vernichten. Watson nimmt auch diese Fährte auf und kommt über einen korrupten Richter tatsächlich dem Colonel auf die Spur, dem mächtigen zweiten Mann Moriartys, dem er sich an die Fersen heftet. Und tatsächlich findet Watson in einem verlassenen Lagerhaus die Leiche seines Freundes, umgeben von einer Heerschar orientalisch gekleideter Gestalten – offenbar erfordern die finsteren Pläne Moriartys exotische Unterstützung.

Nach Indien soll der Leichnam geschafft werden, um dort den Zauber zu vollenden. Aber da greift Watson ein: tollkühn springt er auf das Schiff, das schon Richtung Indien ausläuft. Aber so richtig durchdacht hat er die Sache nicht – nach einem gewaltigen Schlag auf den Kopf erwacht er im heutigen Afghanistan. Offenbar in vollem Gange ist da noch der Krieg, an dem er selbst als junger Mann teilnahm – und so vermischen sich bei Kandahar für Watson Vergangenheit und Gegenwart. Ausgemergelt, dem Tode nahe, meint er zudem immer wieder die Gestalt seines Gefährten zu erkennen…

Stéphane Betbeder („Bunker“, „Alice Matheson“, beide ebenfalls bei Splitter) fügt sich mit dieser Episode nahtlos in das Sherlockversum ein, in dem Sylvain Cordurié die Nischen der Holmes-Welt besetzt, die in den Zwischenräumen oder vor dem offiziellen Conan-Doyle-Kanon liegen. Watsons Verzweiflung und Haltlosigkeit nach dem vermeintlichen Ableben seines Freundes breitete schon Cordurié in „Sherlock Holmes und die Vampire von London“ aus, wobei diese Züge nun in diesem Beitrag in den Mittelpunkt gerückt werden. In der Storyline, die in der Holmes-Mythologie chronologisch nach der Erzählung „The Final Problem“ von 1893 spielt, übernimmt Watson gewissermaßen die Rolle seines Lehrmeisters, um dessen Vermächtnis würdig fortzuführen und damit den Schmerz des Verlustes besser zu verwinden. Watson ist allerdings vollkommen klar, dass er nur ein bleicher Schatten seines großen Vorbilds ist – geistig nicht so agil (und obsessiv), körperlich weniger fit (dafür allerdings auch nicht abhängig nach Drogen aller Art), aber dennoch nimmt der die Fährte der vermeintlichen Seelenrettung ohne zu zögern auf.

Erzähltechnisch arbeitet Betbeder vielschichtig, wobei sich die Facetten des Rätsels zunehmend entfalten: eingangs findet sich der dahinsiechende, abgemagerte Watson in einem Massengrab in der Wüste und rekonstruiert delirierend die Ereignisse, die ihn hierhergebracht haben. Diese erleben wir dann in Flashbacks, die teilweise in der Ich-Form berichtet werden. Vor allem im zweiten Teil, der größtenteils nahe Kandahar spielt, geraten die Ereignisse fast zu einem Fiebertraum, in dem Realität, Wahn und Zeitebenen immer öfter ineinanderfließen. Ein mehr als nur achtbarer Beitrag zum Holmes-Universum, fast ein wenig im Sinne der Sidekick-Stories, in denen die Helfer gängiger Helden selbst zum Protagonist werden. Zeichnerisch von Darko Perovic professionell-eindrucksvoll besorgt, können wir die beiden Episoden der Storyline „Dr Watson: Le Grand Hiatus“ – als Titel durchaus treffend, schließlich haben wir es hier in der Tat mit einem Hiatus, einer Pause im regulären Erzählfluss, zu tun, aber auch mit seelischen Abgründen – hier in einer Splitter Double Ausgabe komplett bestaunen. (hb)

Dr. Watson
Text: Stéphane Betbeder
Bilder: Darko Perovic
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-453-7

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