Motorcity (Schreiber & Leser)

August 30, 2017

Eine junge Polizistin mit Vergangenheit. Ein Kommissariat, in dem die Beamten literweise Kaffee trinken und sich gegenseitig anschnauzen. Ein vermisster Autofreak. Amerikanische Straßenkreuzer. Haartollen, Pettycoats, Rockabilly. Motorcity. Die fünfziger Jahre? Detroit, USA? Weit gefehlt. Motorcity steht hier nicht für den Spitznamen des einstmals blühenden Zentrums der US-Autoindustrie (schreibt sich auch getrennt – Motor City), sondern für die Bezeichnung eines großen Oldtimer-Festivals für und mit US-Schlitten. Welches – man höre und staune – jährlich in Schweden stattfindet. Und die Zeit, in der die Handlung des Bandes spielt, sind auch nicht die fünfziger Jahre, sondern die Gegenwart.

Linköping, Südschweden. Hier beginnt Lisa Forsberg – jung, hübsch, unkonventionell – ihren Job als Polizistin. Linköping ist ihre Heimat. Hierher kam sie zurück, um nahe bei ihrem Vater zu sein. Sie bekommt auch gleich einen ersten Fall übertragen, in dem sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Erik Linden das Verschwinden von Anton Wiger untersuchen soll. Das Duo ermitteln zuerst im Umfeld des Vermissten: bei seinen Eltern, die sich wundern, dass er seinen geliebten alten Pontiac zurückgelassen hat. Bei seiner Freundin Magdalena (erinnert im Aussehen an eine blonde Scarlett Johansson), die sich erstaunlich wenige Sorgen um den Verbleib Antons macht. Auf dem Motorcity Festival, wo amerikanische Straßenkreuzer vergangener Jahrzehnte im Mittelpunkt stehen und wo die schwedische Raggare-Kultur noch lebendig ist, befragen sie den Veranstalter. Schließlich führt eine Spur zu den Norman-Brüdern, finstere Waldschrat-Gesellen, die ganz offenbar Dreck am Stecken haben. Und eventuell auch ein Motiv. Was sich als Sackgasse erweist. Denn für die Lösung des Falls müssen die beiden Polizisten einen ganz anderen Weg einschlagen…

Raggare? Ist oder war eine Subkultur, die in den 1950er Jahren v.a. in Schweden entstand. Junge Menschen fuhren, einmal mehr inspiriert vom US-Original, amerikanische Wagen, trugen Rockabilly Klomotten und hörten Elvis & Co. Natürlich nur echt mit entsprechender Gelfrisur. Marlo Brando in „The Wild One“ (bei uns Horst Buchholz in „Die Halbstarken“) war ein Idol zum Nacheifern. Man eckte an, wider das Bürgertum, die etablierte Gesellschaft. Und war entsprechend genau dort verrufen. Später ebbte die Bewegung freilich wieder ab, ist aber in Teilen noch heute lebendig. Das dem Motorcity entsprechende reale Festival nennt sich „Power Big Meet“ und ist lt. Wikipedia tatsächlich „das weltweit größte Oldtimer-Festival für amerikanische Fahrzeuge“. Aber: die Raggare Bewegung, die die Handlung immer wieder streift, dient hier lediglich als optische Staffage, als Hintergrundrauschen, damit Berthet zumindest teilweise ein bevorzugtes Umfeld zur Verfügung gestellt bekommt, in dem er sich sichtlich wohl fühlt: die fünfziger Jahre, samt Straßenkreuzer, halbstarken Raufbolden und attraktiven Frauen (siehe „Pin Up“, „Perico“ und auch „Dein Verbrechen“). Aber auch ohne dieses für ihn schon beinahe charakteristisches Ambiente kommt Berthets klarer, eleganter Stil wieder besonders gut zur Geltung. Seine kühle, klare Linie fängt das Design und die Mode aus dieser Zeit besonders gut ein und scheint einmal mehr wie dafür gemacht.

Der Band bewirbt sich als Schwedenkrimi und will sich damit exakt charakterisieren. Hierzu fallen dem geneigten Genre-Leser Namen ein wie Stieg Larsson mit seiner Millennium-Trilogie oder Henning Mankell, dessen Kommissar Wallander eine schon fast unüberschaubare Reihe an Romanen und Fernsehfilmen bestreitet, die in einer scheinbaren Endlosschleife über die Mattscheibe flimmern. Schwedenkrimis spielen gerne im Ländlichen oder in Kleinstädten und offenbaren im Finale ebenso gerne menschliche Abgründe, die sich hinter der Fassade des Bürgerlichen, des scheinbar Normalen, auftun, um sich dann gewaltsam Bahn zu brechen. So auch hier: schon früh wird klar, dass der Fall Lisa Forsberg persönlich berührt. Sie kennt die Personen aus ihrer eigenen Raggare-Phase in ihrer Jugend, die diversen Verdächtigen, von denen fast alle– so viel kann man getrost verraten – zwar ein vermeintliches Motiv haben, mit dem Verschwinden des Autonarrs Anton aber dann doch nichts – zumindest nicht direkt – am Hut haben. Am Ende wird es demnach auch hier arg dramatisch. Die Auflösung scheint die Ermittler wie auch den Leser zu überrollen. Autor Runberg („Orbital“, „Reconquista“) trägt wahrlich dick auf und kaum einer der stereotypen Charaktere kommt ungeschoren davon. Auch Lisa wird einen neuen Weg einschlagen. Schreiber & Leser bringt den aktuellen Band Berthets, wie auch dessen letzte Veröffentlichungen, im Rahmen des Noir-Labels im bewährten Graphic Novel Format. (bw)

Motorcity
Text: Sylvain Runberg
Bilder: Philippe Berthet
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Verlag Schreiber & Leser
18,80 Euro

ISBN: 978-3-946337-40-9

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