Tin Lizzie, Band 1 (toonfish)

Februar 18, 2016

Tin Lizzie, Band 1 (toonfish)

Unglaublich aber wahr: auch in den USA gab es eine Zeit, in der die Straßen nicht von Autos verstopft waren, sondern diese formidable neue Erfindung erst noch ihren Siegeszug antreten musste. Und das tut sie teilweise in den entlegensten Gebieten, so etwa in Ponchatoula, einem kleinen Nest in Mississippi, in dem im Sommer 1908 das erste Automobil aus dem fernen Detroit aus den Fabrikationshallen eines gewissen Henry Ford angeliefert wird. Käufer ist der grummelige Großgrundbesitzer namens Colonel, der allerdings ganz eigene Vorstellungen von der Zukunft hat: er möchte nämlich keineswegs als Pionier der Straßen in die Geschichte eingehen, sondern will das Ford T-Modell schlicht und ergreifend umfunktionieren. Und zwar in einen Traktor für seine Felder, immerhin hat die Kiste eine ordentliche Zugmaschine eingebaut. Diesen Auftrag erteilt er seinem Verwalter Rhod, einem bulligen Kerl, der allerdings sichtlich von der neuen Technik verzückt ist. Gemeinsam mit dem Enkel des Colonels Jake verpasst er dem Automobil erst einmal eine neue Lackierung und gelobt, sich dem Umbau zu widmen, als der Colonel sich wie jedes Jahr für eine Woche auf die Landwirtschaftsmesse von Saint-Rochelle verabschiedet.

Kaum hat man die beiden auf den Bahnhof abgesetzt, weiht Rhod den kleinen Jake in einen abenteuerlichen Plan ein: eine Woche lang könne man jetzt mit dem Auto das Land durchreisen, was doch die eigentliche Bestimmung dieser sensationellen Neuerung sei, dann bleibe doch noch genug Zeit für das unrühmliche Ende als Feldmaschine. Jake braucht nicht lange, um seine anfänglichen Skrupel abzulegen, erfindet irgendwelche Geschichte von Freunden, die er besucht, und los geht die Reise in Richtung der nächsten Stadt New Bay. Hinter der ersten Kurve stellt sich heraus, dass man einen blinden Passagier an Bord hat: der farbige Arbeiter Louis hat sich ebenfalls an Bord geschlichen und überzeugt schließlich damit, dass man in New Bay bei seinem Onkel Samuel wohnen könne. Nach einer aufregenden Fahrt, in der Jake auch ans Steuer darf und erst einmal die ungewohnt vielen Pferdestärken bändigen muss, kommt das Trio am Ziel an. Dort wird schnell klar, was Rhod eigentlich antreibt: er sucht seine große Liebe, die Sängerin Becky Kay, die einst von Ponchatoula wegging, um in der großen Stadt bei den French Follies in einer Revue aufzutreten. Tatsächlich gelingt es Rhod, seine Angebetete zu treffen, aber er ist nicht der einzige Verehrer – und um seine Herzensdame zu erringen, lässt er sich auf ein waghalsiges Wettrennen ein…

Thierry Chaffoin erzählt hier eine ganz wunderbare, traditionelle Geschichte des Erwachsenwerdens, der Freundschaft, Liebe und der großen Reise, die der alte Jake 1962 in Gedanken nochmals durchlebt, als er mit dem Zug zum Begräbnis von Rhod fährt. Die Tin Lizzie – das liebevoll „Blechliesel“ genannte T-Modell, das Henry Ford 1908 als erste massenerschwingliche Fließbandproduktion herstellte und das bis 1972 das meistverkaufte Automobil der Welt blieb – ist dabei weit mehr als nur ein Zeichen des Fortschritts, es ist das Symbol von Freiheit, Selbstbestimmung und auch erfüllter Träume, zu deren Werkzeug es der verliebte Rhod gegen jede Chance macht. Wie einst Tom Sawyer und Huckleberry Finn durchstreift das ungleiche Trio die Südstaaten der Baumwollfelder und Schaufelraddampfer, wobei alle Alters-, Standes- und Rassenunterschiede vollkommen unerheblich werden. Mindestens genauso wunderschön wie die herzerwärmende Story sind die aquarellhaften, wunderhaft stilisierten Zeichnungen, in denen Dominique Monféry dieses Road Movie zum Leben erweckt, in einem Stil, der teilweise an die Tradition der franko-belgischen Funnies erinnert, aber im nächsten Moment ebenso detailreich und realitätstreu Häuser und vor allem das zentrale Leitmotiv des Ford T inszeniert. Doppeldeutig bleibt dabei der Titel, denn die „Schöne von Ponchatoula“ kann nicht nur Becky, sondern auch das zeitlos gestaltete, symbolträchtige Automobil sein, dass das Leben der Mitreisenden für immer verändert. So geht es weniger um die grundlegende Revolution des Lebens, die die Mobilität für jedermann mit sich brachte, sondern eher um einen Coming of Age-Roman, wie man ihn in seiner Sympathie und Verbindlichkeit lange nicht erleben durfte. In Band 2, „Rodeo Junction“, erfahren wir, wie die Geschichte schließlich ausgeht. (hb)

Tin Lizzie, Band 1: Die Schöne von Ponchatoula
Text: Thierry Chaffoin
Bilder: Dominique Monféry
48 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
12,95 Euro

ISBN: 978-3-95839-912-9

Tags: , , , , ,

Comments are closed.