Jetzt: Juli 2108, fast genau 100 Jahre nach dem Ausbruch der Seuche, des Virus‘ – was auch immer. Als die befallenen Menschen, gezeichnet durch ein Kreuz im Gesicht, wieder auf grausamste Urinstinkte reduziert wurden: Sex und Gewalt. In übelstem Ausmaß. Auch gerne miteinander kombiniert. Wir befinden uns nun im ehemaligen Bundesstaat Tennessee. Inzwischen hat sich die Situation geändert. Zum Guten für die Menschen, ganz langsam, ganz vorsichtig. Seuchen (AIDS!) und ihr destruktives Wesen haben die Infizierten über die Jahre dezimiert. Die Menschen gewannen wieder die Überhand. Ein beinahe normales Leben – freilich auf niedrigem Level – scheint, wenn auch geschützt hinter meterhohen Palisaden, wieder möglich. Es gibt sogar Strom. Wenigstens ab und an. Immer wieder wagen sich Gruppen der Nachkommen der Überlebenden in die ungeschützte Welt hinaus, um in zerstörten und verwüsteten Städten nach wertvollen Überbleibseln der alten Kultur, der alten Zeit zu suchen.
Eine davon ist Future Taylor. Sie ist die Archivarin der Kolonie, die sich im ehemaligen Chattanooga etabliert hat. Ihr Steckenpferd ist das Sammeln von alten Wünsch-Fiction Büchern (= Science-Fiction; zur Sprache im Band siehe weiter unten). Auf ihrem sogenannten Run trifft die Gruppe, die mit einem befestigten, gepanzerten Raupenfahrzeug unterwegs ist, immer wieder auf Nester von Infizierten. Was ungewöhnlich ist, denn eigentlich sollte die Gegend schon lange gesäubert sein. Noch seltsamer: die Gruppen hinterlassen kleine Altare, die mit weißem Pulver und gerahmten Bildern bestückt sind. Infizierte, die religiös organisiert sind? Unmöglich. Als Future später in der menschlichen Nachbarsiedlung (die muslimisch ist) eines der Altarbilder als Phantombild eines Serienkillers identifizieren kann, der vor 100 Jahren wütete, wird die Sache noch mysteriöser. Gemeinsam einigen sich beide Siedlungen darauf, die neuen Infizierten-Nester auszumerzen und machen sich mit ihren Kettenfahrzeugen auf den Weg. Als Future in den Appalachen weitere Nachforschungen anstellt, muss sie bald erkennen, was hinter den Vorgängen um die Altäre und die Infizierten steckt: der blanke Horror, der sich unaufhaltsam seinen Weg bahnt…
Alan Moore macht Crossed? Nein, er macht sich Crossed zu eigen. Macht Neues aus etwas, das bereits vorhanden ist. Keine neue Vorgehensweise bei ihm, das kennen wir beispielsweise von seinen Runs bei Swamp Thing oder Miracleman. Hier bei seinem Crossed-Ausflug siedelt Moore die Handlung 100 Jahre nach der regulären Reihe an. Und bastelt erst einmal eine neue Sprache. Eine veränderte Sprache, die sich kürzer fasst, die dennoch verständlich ist. Was mich die Sprache in einer Episode aus Cloud Atlas erinnert (Tom Hanks redet da so). Beispiele gefällig: fliehen/abhauen heißt kicken, man überlegt nicht, man hirnt. Die übrig gebliebenen, versprengten Infizierten nennt man Illbillys. Man tötet nicht, man moppt. Der Übersetzer ist nicht zu beneiden und hat hier eine hervorragende Arbeit geleistet. Aber nicht nur die Sprache, auch die menschliche Kultur, die Gesellschaft hat sich verändert. Sex, durch die Infizierten negativ belegt, ist mehr nur eine Sache. Man redet darüber. Wer mit wem, Geschlecht, all das spielt keine große Rolle mehr, die Aufhebens verursacht. Auch das Sterben wird fremdartig, emotionsarm hingenommen. Man hat sich eben über die Jahre daran gewöhnt – schließlich liegen überall in der Landschaft Knochen herum, die von der schrecklichen Vergangenheit künden.
Aber das Beste ist die Story: Was bedächtig als laues, angenehmes Lüftchen beginnt – wir werden mit Bedacht und Verstand in die neue post-apokalyptische Welt eingeführt – wird nach und nach zum ohrenbetäubenden Orkan, der im Finale alles hinwegfegt. Aus einem Licht im Dunklen, das Hoffnung weckt, wird schwärzeste Nacht, in der es keine Gnade gibt. Man klebt fasziniert an der Geschichte und muss unweigerlich den Kopf schütteln, als man erkennt, wie großartig Alan Moore die Handlung komponiert und durchdacht hat, wenn am Ende verblüffende Zusammenhänge plausibel hergestellt werden. Was zeigt: der Altmeister hat’s noch immer drauf. Aus einer harten (zugegeben: bisweilen zu hart) Horror-Serie, die von Garth Ennis erdacht wurde (inzwischen gibt es von Crossed bei Panini 13 Bände), schafft er durch eine kleine Änderung im Gesamtbild (indem er 100 Jahre später ansetzt) ein echtes Moore‘sches Meisterwerk, bei dem einen der Atem stockt. Der zweite Band, der bereits im April erscheint, muss leider ohne ihn auskommen. Seinen Serien-Nachfolger Simon Spurrier habe er aber persönlich für die Fortsetzung ausgesucht. Wir sind gespannt. Der Band existiert auch in einer Hardcover-Edition, die auf nur 222 Exemplare limitiert ist. (bw)
Crossed + Einhundert, Band 1
Text: Alan Moore
Bilder: Gabriel Andrade
148 Seiten in Farbe
Panini Comics
19,99 Euro
ISBN: 978-1-59291-264-3