London, 1910. Nicht unser London, sondern das der Parallelwelt der Liga der außergewöhnlichen Gentlemen (u.a. versuchten hier vor zwölf Jahren Außerirdische England zu erobern). Die Liga ist nun anders. Von der Urbesetzung sind noch Mina Murray, die einst Harker hieß, und Allan Quatermain übrig. Neu dabei sind der Einbrecher A.J. Raffles, der Hellseher Thomas Carnacki und der unsterbliche Krieger Orlando, der das Schwert Excalibur besitzt, der unfreiwillig immer wieder das Geschlecht wechselt und unabhängig davon alles anmacht, was nicht bis drei auf den Bäumen ist. Carnacki wird von einer Vision heimgesucht. Gefahr scheint in Verzug. Ein Mondkind, der Antichrist, soll erschaffen werden. Eine Bedrohung für die ganze Welt. Die Spur führt die Liga zu dem Magier Oliver Haddo, doch Beweise für dessen Vorhaben finden sich nicht. Dazu kommen zwei ausgeprägte Nebenhandlungen: Nemo stirbt. Seine Tochter Janni verweigert die Nachfolge (und damit das Kommando über die Nautilus), geht nach London und arbeitet dort als Magd in einem Pub. Sie wird vergewaltigt, ruft die ihren samt Nautilus, die aus Rache die Londoner Docks zerstören. Dann taucht Jack the Ripper aus der Versenkung auf, in der Person Macheaths (der aus der Dreigroschenoper) und soll nach seiner Festnahme endlich hingerichtet werden.
Szenenwechsel. Zeitenwechsel. 1969. Swinging London. Die Sache mit dem Antichrist ist nicht ausgestanden. Mina, Orlando und Allan, die eine gemeinsame Beziehung führen und allesamt nun ewig jung sind, bilden nun die Liga. Sie nehmen nach einem bewegten Leben (Mina führte in den Fünfzigern eine Superheldentruppe) Haddos Spur wieder auf. Dessen Geist ist in der Lage, Körper zu wechseln. Und er verfolgt immer noch seinen Plan, das Mondkind zu produzieren. Sein neuer Wirtskörper soll ausgerechnet der Rockstar Terner werden, Sänger der Band Purple Orchestra (der in unserer Welt Mick Jagger heißt). Bei einem Konzert im Hyde-Park können Orlando und Allan das Schlimmste verhindern, während die zugedröhnte Mina auf der Astralebene gegen einen monströsen Haddo kämpft. Ein Kampf, der völlig abgedreht und zeitgemäß psychedelisch illustriert ist. Haddo kann entkommen. Mina verliert den Verstand und wird Richtung Irrenhaus abtransportiert. Orlando und Allan sind nun ‚führerlos‘, Mina ist verschwunden.
Zur letzten Episode springen wir ins Jahr 2009. Inzwischen ist Allan obdachlos und den Drogen verfallen. Orlando, gewarnt, dass der Antichrist bereits existiert, findet endlich Mina und befreit sie mit Hilfe von M (ja, genau die) aus einer Anstalt, wo sie 40 Jahre unter starken Medikamenten ruhig gestellt war. Mit Hilfe des Gefangenen von London, der Zeiten, aber nicht Orte wechseln kann, gelangen Sie in einer Parallel-Dimension in das Unsichtbare College (genau, das heißt bei uns Hogwarts). Das ist völlig verwüstet, Schüler und Lehrer auf grausamste Weise gemeuchelt. Denn hier wurde der Antichrist erschaffen, hier wütete er bereits. Zurück in London stoßen sie in einer verwahrlosten Gasse endlich auf ihren Gegner. Der ist nicht das, was Haddo sich vorstellte, sondern ein verblödeter, grausamer Irrer. Es kommt zum finalen Kampf. Und damit zum Ende der Liga?
Moore begann seine langlebigste Serie schon 1999. Dies ist bereits der vierte Band, wenn man das äußerst ungewöhnliche Gesamtkunstwerk The Black Dossier hinzuzählt. Der erste Band wurde verfilmt, leidlich erfolgreich (nun ja, man nahm die Charaktere… mehr eigentlich nicht). Der Film ist dann auch weniger wegen seiner ‚Qualität‘ bekannt, als vielmehr durch Querelen, die zwei einschneidende Dinge zur Folge hatten: Sean Connery hängte seinen Job an den Nagel und Alan Moore wird erst seinen Namen für eine Comic-Verfilmung hergeben, wenn die Hölle zufriert. Century ist eigentlich ein Sammelband, der die Teile der Trilogie enthält, die Panini auch einzeln veröffentlichte und die ein ganzes Jahrhundert abdecken: 1910, 1969, 2009. Fans der Reihe können übrigens beruhigt sein: es geht weiter. Ein neuer Band (Nemo – Die Rosen von Berlin, Nachfolger von Nemo – Herz aus Eis) ist für Februar 2015 bereits angekündigt. Hier setzt Moore den Fokus auf Janni, Nemos Tochter.
Die Comics Moores zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits komplex und anspruchsvoll, andererseits aber trotzdem für jeden halbwegs interessierten Comicleser höchst genießbar sind. Bei seinen besten Werken halten sich diese beiden Seiten perfekt die Waage, siehe Watchmen oder V for Vendetta. Bisweilen aber gewinnt die Komplexität die Überhand, wie bei einigen Passagen aus From Hell, vor allem, wenn es in Richtung Okkultismus geht – bekanntlich Alan Moores Steckenpferd. Bei Century ist dies auch der Fall. Sprechen wir daher ruhig von schwerer Kost. Behandeln die Vorgänger durchaus populäre und gemeinere Themen, wie Wells‘ War of the Worlds, geht es in Century ganz tief ins Okkulte, das Moore in die jeweilige Ära geschickt implementiert (Séancen und Rituale aus der Frühzeit des 20. Jahrhunderts, in Verbindung mit Drogen in der Hippie-Zeit). Auslöser der Handlung ist eine Vision Carnackis über das Mondkind, das das Ende der Welt herbeiführen soll. Im Rahmen dieses Roten Fadens begleiten wir die Liga unter der Führung Minas durch drei Zeitfenster und damit drei Epochen des 20. Jahrhunderts.
Der Band liest sich auf zwei Arten: als Literatur-Beflissener erfreut man sich fasziniert in Wort und Bild an den Figuren und Anspielungen, an den Andeutungen, Zitaten und Querverweisen, ohne die Handlung, Gesamtbild und v.a. den Lesefluss aus den Augen zu verlieren. Dabei riskiert man freilich, das ein oder andere zu übersehen. Man kann aber tatsächlich auch hergehen und begleitend mit den zahlreichen Seiten, die das Internet zu dem Thema bietet, beinahe jedes einzelne (!) Panel unter die Lupe nehmen und die Anmerkungen dazu studieren. Aber so oder so: Schnell wird man sich bewusst, welch unglaubliches und auch bisweilen seltsames Wissen Hobby-Magier Alan Moore doch besitzen muss.
Stichwort Anspielungen und Motive aus klassischer und populärer Kultur, die einmal nur angeschnitten oder durch Nebenpersonen verkörpert und ein anderes mal zum zentralen Thema gemacht werden. Beispiele? Da haben wir einen alten Seebären namens Ishmael, Zitate und Gesänge aus Brechts Dreigroschenoper, einmal mehr Jack The Ripper, der Tod des Rolling Stones Gitarristen Brian Jones und das anschließende Konzert im Londoner Hyde-Park, der hier nach Mr. Hyde, dem ehemaligen Liga-Mitglied, benannt ist. Die Beatles sind hier die Rutles (das Schlitzohr Moore nimmt hier die tatsächliche Parodie aus den 70ern). Sogar das Superhelden-Genre wird gestreift. Ein junger Michael Caine aus Get Carter ist dabei. Herr Poelzig wird erwähnt (das ist schon echt hart). Und natürlich Harry Potter. Amüsant anzusehen, wie Moore hier auf wenigen Seiten mit der Potter-Welt ‚abrechnet‘. Und das durchaus schlüssig. Unglaublich…
Wenn auch dieser Liga-Band nicht an den ersten der Reihe oder gar an Moores Klassiker wie Watchmen oder V for Vendetta heranreicht, so ist es doch schön zu sehen, dass sich der (man kann schon fast sagen) Altmeister noch immer mit dem Medium Comic beschäftigt, auch wenn er schon mehrmals seine Abkehr angekündigt hat. Wie gewohnt wird die Aufmerksamkeit des Lesers gefordert, nicht nur der Anspielungen wegen. Erstaunlich, ist doch die Handlung eigentlich recht dünn und baut bis zum Finale viel auf Vermutungen und Stochern im Dunkeln auf. Viel Inhalt wird auf die Beziehung zwischen Mina, Orlando und Allan verwendet, auf Minas Bemühungen, mit der Unsterblichkeit um und mit der aktuellen Kultur konform zu gehen. Schön auch: wie bei allen wichtigen und großen Werken Moores verläßt er sich auf einen einzigen Zeichner, mit dem man das jeweilige Oeuvre identifiziert. Das ist mit Dave Gibbons so, mit Eddie Campbell oder mit David Lloyd. So ist auch Kevin O’Neill seit 1999 mit an Bord und ein Liga-Band ohne seinen spröden, unterkühlten wie eleganten, bisweilen Karikatur-haften Stil ist schlichtweg nicht mehr vorstellbar. Die limitierte Hardcover-Ausgabe für Sammler umfasst dieses mal nur 222 Exemplare und sollte schnell vergriffen sein. (bw)
Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen, Band 3: Century
Text: Alan Moore
Bilder: Kevin O‘Neill
244 Seiten in Farbe, Softcover
Panini Comics
29,99 Euro (Softcover)
39 Euro (Hardcover)
ISBN: 978-3-95798-116-5