Miracleman, Band 2 (Panini)

April 9, 2015

Miracleman, Band 2 (Panini)

Legendär. Bahnbrechend. Brillant. Wegweisend. Die Liste der Attribute, mit denen man Alan Moores Geniestreich aus den frühen 80ern belegen kann, ja muss, ist schier endlos, und vor allem: komplett zutreffend. Denn was der Mann, in dessen Geist wir uns wohl alle selbst mit Navigationssystem noch verirren würden, mit einer Figur anstellte, die schon im Silver Age der Bildgeschichten 1954 von Mick Anglo ersonnen wurde, sucht seinesgleichen und deutet in mehr als nur einem Aspekt auf sein großes Werk Watchmen voraus. Dieses Vergnügen war bislang allerdings Lesern vorbehalten, die sich am Original erfreuen konnten – ein drastisches Manko in der deutschen Veröffentlichungshistorie, die Panini nun mit Sammelausgaben der englischen Serie dankenswerterweise schließt.

In Band 1 konnten wir erleben, wie der eher unbedeutende Reporter Michael Moran von Träumen heimgesucht wird, in denen er fliegt, von Explosionen umgeben ist und allerlei Heldentaten zustande bringt. Als er in eine Beinahe-Katastrophe verwickelt wird, entdeckt er durch Zufall, dass ihn diese Visionen keineswegs trügen: ein mysteriöses Wort verwandelt ihn in den Halbgott Miracleman, der mit übermenschlichen Kräften gesegnet den Tag, das Atomkraftwerk und seine Frau Liz rettet und nebenbei noch den Widersacher Jonathan Bates (seinerseits offenbar ein ehemaliger Held namens Kid Miracleman) in die Schranken weist. Moran erinnert sich nun finster, dass ihn einst eine unbekannte Macht zum Superwesen machte, er allerdings nach der Explosion einer Atombombe vor 18 Jahren sein Gedächtnis verloren hat und dies nun teilweise wiedergewinnt…

Vorhang auf zu Band 2: haben Moran und Liz jahrelang vergeblich versucht, ein Kind zusammenzubasteln, braucht sein Alter Ego nur eine Nacht dazu, seine Frau in andere Umstände zu versetzen (offenbar kennen Franz Beckenbauer und Boris Becker ebenfalls das Zauberwort). Die Freude darüber währt allerdings kurz, denn Miracleman findet nach einem Ausflug sein Haus verwüstet und seine Frau nebst künftigem Nachwuchs entführt. Der Killer Evelyn Cream, der sich auf Morans Seite geschlagen hat, findet schnell heraus, dass niemand anders als Dr. Emil Gargunza hinter dem Komplott steckt – der mysteriöse Anführer des Geheimprojektes Zarathustra, aus dem Miracleman einst hervorging. Mit Creams Hilfe lokalisiert Miracleman seinen Schöpfer in Südamerika, wo dieser der entsetzten Liz die Wahrheit eröffnet: nichts anderes als seine eigene Unsterblichkeit verfolgte der soziopathische Mad Scientist stets, und dabei war ihm jedes Mittel recht, auch die zwischenzeitliche Zusammenarbeit mit den Nazis. Das wahre Geschenk fiel ihm allerdings 1948 in den Schoß, als – Roswell lässt grüßen – ein Raumschiff in England abstürzte, das neben allerlei außerirdischer Technologie auch einen Piloten enthielt, der offenbar die Fähigkeit hatte, auf Kommando in ein alternatives Wesen zu schlüpfen, das ist einer Art Parallelwelt aufbewahrt wurde und durch eine bestimmte Technik in Erscheinung trat – durchaus praktisch für Weltraumreisen, Drecksarbeiten und andere Dinge.

Gargunza riss sich dieses Wesen unter den Nagel, experimentierte jahrelang daran herum und isolierte schließlich Zellen, um das zu züchten, hinter dem die Nazis, er und eigentlich alle Supermächte her waren: den unzerstörbaren, aber gefügigen Übermenschen. Aus DNA des zu diesem Zweck entführten Waisenkindes Michael Moran klonte er dann drei Superwesen. Aber um sie gefügig und kontrollierbar zu halten, brauchten sie Erinnerungen, Historie, eine vermeintlich logische Existenz (ein genialer Ingenieur namens Tyrell wird sich 2029 mit dem gleichen Problem herumschlagen) – und die fand Gargunza in den vergilbten Seiten eines alten Comicheftes, in dem der schmächtige Billy Batson durch ein magisches Wort zum Superhelden Shazam (auch genannt Marvelman) wird. Daran angelehnt erschuf Gargunza seine kleine Miracle-Familie, die er im Tiefschlaf hielt und manipulierte, um irgendwann selbst einen dieser perfekten Körper zu übernehmen. Das allerdings klappte leider nicht so ganz, weshalb er es nun auf den Spross von Miracleman abgesehen hat, der da im Körper von Liz heranwächst.

Da hat der Kollege aber die Rechnung ohne Wundermann gemacht, der das Versteck des Halunken nach allen Regeln der Kunst zerlegt – bis ihn dieser durch ein posthypnotisches Wort in Nöte bringt, das ihn zurückverwandelt und für exakt eine Stunde hindert, wieder zu Miracleman zu werden. In der schwächlichen Inkarnation Morans scheint er chancenlos, als Gargunza ihm und Cream im Dschungel einen zum Monster mutierten Lumpi namens Miracledog auf den Hals hetzt. Der macht auch flugs kurzen Prozess mit Cream, aber Moran entsinnt sich auf das Wort, mit dem Gargunza den harmlosen Kläffer zum mörderischen Untier machte, dreht den Prozess um und kehrt in seiner Form als Übermensch zurück, um Gargunza und seinen Helfershelfern gnadenlos und durchaus grausam den Garaus zu machen. Höchste Zeit auch, denn bei seiner Frau setzen die Wehen ein, und so wird Miracleman auch noch zur Hebamme, die unter freiem Himmel hilft, seine Tochter auf die Welt zu befördern (allein diese Szenen sorgten beim ersten Erscheinen für Aufsehen, sah man hier doch „graphic scenes of childbirth“ – alles sehr präzise, aus eigener Anschauung, und gerade daher nichts für zarte Gemüter). Mit Gargunza aus dem Weg, steht nun neuen Abenteuern nichts mehr im Wege – und das ist auch gut so, bemüht sich doch der im Geiste von Jonathan Bates eingesperrte, durchgedrehte Kid Miracleman nach Kräften, auszubrechen…

Die Bedeutung von Miracleman für das Erwachsenwerden der Comics Anfang der 80er ist kaum zu überschätzen. Alan Moore, damals noch am Anfang seiner mittlerweile unfassbaren Karriere, schnappte sich dafür einen eigentlich eindimensionalen Charakter, der unter dem Namen Marvelman in den 50ern als kaum kaschierte englische Kopie des amerikanischen Captain Marvel von Mick Anglo geschaffen worden war. Anstelle von Billy Batson war es dabei Micky Moran, der von einem Astrophysiker (und nicht einem Zauberer) Superkräfte verpasst bekam, die mit dem magischen Wort „Kimota“ („atomic“ rückwärts – aha!) aktiviert werden (Batson muss bekanntlich „Shazam“ rufen, und nicht um per App Songs zu identifizieren, sondern um zum Superheld zu werden). Wie auch Captain Marvel scharte Marvelman bald Sidekicks um sich: Young Marvelman und Kid Marvelman formierten sich zur Marvel Family. Nach bunten, intergalaktischen Abenteuern war 1963 allerdings erst einmal Schicht im Schacht, die Serien wurden eingestellt.

Auch noch erhältlich: Band 1

Auch noch erhältlich: Band 1

1982 machte sich der englische Verleger Dez Skinn in seinem Monatsheft Warrior daran, diverse alte britische Helden zu reaktivieren – und nachdem sonst keiner wollte, durfte sich der junge Alan Moore an einem Reboot von Marvelman versuchen. Anstelle eines simplen Neustarts schuf Moore allerdings das, wofür er berühmt-berüchtigt werden sollte: eine finstere, modernistische Dekonstruktion des Heldenmythos, in dem scheinbare Schurken durchaus positive Züge aufweisen (Cream) und der traditionelle Held zum furchterregenden, unkontrollierbaren, außerhalb jeder menschlichen Konvention stehenden Überwesen wird – mehr als einmal erinnert Moores Miracleman an Doktor Manhattan, der sich über die menschliche Kleingeistigkeit nur wundern kann und Widersacher ganz nebensächlich in ihre Atome auflöst. Der wahrlich brillante Schachzug Moores ist allerdings die Metaebene, auf der auch Watchmen (durch Nightowls fiktives Enthüllungswerk ‚Under The Hood‘ und dem Comic-im-Comic ‚Tales Of The Black Freighter‘) zum vielschichtigen Kunstwerk wird: die real bestehende Mythologie eines fiktiven Charakters (dem Marvelman der 50er) wird innerhalb der neuen Fiktion (dem Marvelman von 1982) zur Pseudo-Realität, als Gargunza seinem herangezüchteten Klon die Figuren und auch Abenteuer der alten Marvelman-Familie einpflanzt, die er selbst aus den Comics entnimmt.

Diese Referenzen erlauben ein Spiegeln der Erzählwelten, die neben die eigentliche Handlung (Marvelman entdeckt seine Kräfte wieder) und das Motiv des entmythisierten Scheinhelden (Marvelman als erschreckender Übermensch) eine Reflexion über das Medium Comic selbst stellt. Wem das an intellektuellem Kraftakt noch nicht genügt, der kann sich an den historisch-philosophischen Referenzen laben (das Konzept des Übermenschen von Nietzsche und sein Missbrauch durch die Nazis, die Alien-Roswell-Komponente, Gargunza als stellvertretend für opportunistische Wissenschaft, Genmanipulation, ethisch brenzlige Fragen – ergänzt die Liste selbst…).

1984 kam die Veröffentlichungshistorie ins Stocken, Moore und Herausgeber Dez Skinn stritten sich bitterlich um Rechte, worauf die Figur schließlich beim amerikanischen Eclipse-Verlag landete. Nachdem Stan Lees Marvel-Verlag sich dagegen verwahrt hatte, dass sein Name für die Figur verwendet wurde, erschien die Serie ab 1985 unter dem Namen Miracleman. Mit Ausgabe 16 gab Moore das Ruder endgültig ab, und der nicht minder spannende Neil Gaiman führte die Geschicke von Wundermann fort, bis der Verlag 1994 den Weg alles Irdischen ging. Ein gewisser Todd McFarlane sicherte sich 1996 alle Rechte an den Eclipse-Figuren, um sie für eine Spawn-Welt zu verwursten, und lieferte sich mit Gaiman ein heftiges Gefecht um die Rechte an Miracleman. Das Haus der Wunder selbst kaufte 2009 die Rechte vom eigentlichen Schöpfer Mick Anglo und startete die Serie schließlich erneut – was Neil Gaiman die Chance gibt, nach 25 Jahren endlich seine eigene Idee von Miracleman fortzuführen. Alan Moore, der der Welt im Allgemeinen und der Verlags- und Filmbranche im Besonderen sagen wir mal kritisch gegenübersteht, hat sich mittlerweile losgesagt, weshalb wie bei den Verfilmungen seiner Werke auch bei der hier vorliegenden Neuauflage sein Name fein säuberlich vermieden wird und stets nur von „Der Originalautor“ die Rede ist…

Band 2 (von 4) der deutschen Ausgabe präsentiert die Warrior-Ausgaben 12-18 und 20-21 (erstmals erschienen 1983/84) sowie Miracleman 6-10 (bei Eclipse 1986, 1-5 waren seinerzeit Reprints alter Ausgaben). Absolut essentiell! (hb)

Miracleman, Band 2: Der rote König
Text: Alan Moore
Bilder: Alan Davis, John Ridgway, Rick Veitch
164 Seiten in Farbe, Hardcover
Panini Comics
29 Euro

ISBN: 978-3-95798-025-0

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