Im Kopf von Sherlock Holmes (Splitter)

November 22, 2021
Im Kopf von Sherlock Holmes (Splitter Verlag)

Langeweile ist das Schlimmste für Holmes. Umso erfreuter ist er, als endlich wieder Leben in die Bude kommt – vor allem, wenn dabei ein spannendes Rätsel herausspringt. Das sieht ganz so aus, denn ein Polizist gibt einen völlig verwirrten Fremden ab, der des Nachts im Nachthemd durch die Straßen wankte und behauptet, er sei ein alter Freund von Watson. Sherlocks Kompagnon bestätigt das prompt und identifiziert die seltsame Erscheinung als den Arzt Herbert Fowler, der Watsons ehemalige Praxis übernommen hat. Holmes nimmt sofort die Spurensicherung auf: Fowler trägt einen edlen Pantoffel am Fuß und weist eindeutige Hinweise auf einen Sturz auf. Holmes folgert, dass der Gute im benebelten Zustand aus einer Kutsche gestürzt sein muss, in der sich auch eine Dame aufgehalten haben dürfte. Im Fowlers Wohnung findet man seinen Mantel nebst einer Eintrittskarte zu einer mysteriösen Theateraufführung, die der Arzt am Vorabend besuchte: „Wu Jing The Amazing Magician“ gab es da zu bestaunen, die Tickets wurden an Fowlers Arbeitgeber, das St. Barholomew Krankenhaus, von einem geheimnisvollen Fremden verschenkt, der auch noch 1000 Pfund in den Ring geworfen habe.

Im Lyric Theatre findet Holmes und der staunende Watson am Tickethäuschen einen ganzen Block voller Coupons, die offenbar an die Gäste verteilt wurden und ebenfalls die aufwendigen chinesischen Schriftzeichen aufweisen, die auch die geschenkte Eintrittskarte zieren. Während der Aufführung rief der Magier wohl nach und nach die Zuschauer gemäß der Coupons auf die Bühne, hüllte sie dann in einen rätselhaftes Pulver ein und verabschiedete sich mit Knalleffekt. Auf den Spuren des schlafwandelnden Fowler lokalisieren Holmes und Watson schließlich die Unfallstelle, wo sich eine Perücke und eine abgebrochene Haarnadel finden, die Holmes mit einer Wasserleiche in Verbindung bringt: Fowlers Begleitung der nächtlichen Fahrt, eine Verkäuferin bei Harrods, musste wohl ihr Leben lassen. In der Albert Hall wohnt Holmes in Verkleidung schließlich der nächsten Vorführung des Amazing Wu Jing bei, bei der wieder unterschiedlichste Berufsgruppen auf der Bühne versammelt und mit einem offensichtlich halluzinogenen Pulver bestreut werden, die sie offenbar für eine Entführung gefügig machen sollen…

Mind Palace, Gedankenpalast – so bezeichnet der Holmes in der brillanten BBC-Fernsehserie von Steven Moffatt seine Technik, alles Wissen zu sammeln, zu kategorisieren und im Gedächtnis geordnet in einem ausschweifenden Gebäude abzulegen. Erfunden hat Moffatt diesen Kunstgriff nicht, vielmehr praktizierten diese Gedächtnisübung schon die alten Griechen, die das Konzept entwickelten, Eindrücke und Erinnerungen in einem fiktiven Gebäude abzuspeichern, um sie dort jederzeit finden und nutzen zu können. Diesen Kniff nutzten dann die Meisterredner Roms, allen voran Cicero, ebenso, um ihre langen, komplexen Reden im freien Vortrag fehlerlos darzubieten, ebenso wie mittelalterliche Mönche sich auf diese Weise biblische Texte einprägten.

Im Kopf von Sherlock Holmes - Doppelseite

Diese Idee, auch als loci, Gedankentheater, Gedankenpalast oder Gedächtniskunst bekannt, legen Cyril Lieron und Benoit Dahan ihrer durch und durch originellen Holmes-Geschichte zu Grunde, die inhaltlich alle typischen Elemente von Doyles Meisterdetektiv auffährt: Holmes langweilt sich, vertreibt den Ennui mit Drogen, ein spannender Fall stolpert über seine Schwelle, der seinen Ehrgeiz weckt, und mit dem staunenden Watson beginnt er die Jagd. „Das Spiel ist eröffnet!“, verkündet er am Ende von Teil 1, nachdem seine Kenntnisse in Spurensicherung ebenso unter Beweis gestellt hat wie seinen Wissensfundus in Chemie. Deduktion, also die Entwicklung einer übergreifenden These auf Basis einzelner Indizien, ist die Devise, Holmes ist dabei ebenso soziopathisch wie sein Genosse in der Fernsehserie, wobei Lieron und Dahan immer wieder auf den Literaturkanon verweisen (so etwa erinnert man sich wiederholt an die Erlebnisse in der „Studie in Scharlachrot“) und auch die üblichen Protagonisten Lestrade und Mycroft nicht fehlen dürfen.

Was den besonderen Reiz des Bandes ausmacht, ist allerdings die optische und auch praktische Aufmachung, die ebenfalls von Dahan besorgt wird: schon das Cover besteht in einer dreidimensionalen Darstellung von Holmes, der in seinen Gedankenpalast steigt, ein Motiv, das sich in unterschiedlichsten Varianten durch das gesamte Geschehen zieht, wobei Holmes durch Treppenhäuser, Köpfe und Gebäudedurchschnitte marschiert, dabei seinen Gedanken nachhängt und Thesen spinnt, die gerne auch zur besseren Übersicht nummeriert sind. Dabei wird auch gerne die sprichwörtliche vierte Wand durchbrochen und der geneigte Leser animiert, weitere Hinweise zu enthüllen, indem Seiten umgeklappt oder auch gegen das Licht gehalten werden müssen, um aufschlussreiche Details zu enthüllen. So entsteht ein bunter Reigen, der das kleine Kunststück vollbringt, der mittlerweile stattlichen Fülle von Holmes-Adaptionen eine höchst einfallsreiche, originelle Facette hinzuzufügen – die Wissenschaft der Deduktion zum Anfassen und Mitmachen, sozusagen. Bei Splitter erscheinen die beiden Teile in einem Double-Band, der volles Lese- und Anwendungsvergnügen garantiert. (hb)

Im Kopf von Sherlock Holmes
Text: Cyril Lieron, Benoit Dahan
Bilder: Benoit Dahan
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
28 Euro

ISBN: 978-3-96219-503-8

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