Sherlock wird vom einem Feind geplagt, dem selbst sein meisterliches Gehirn kaum etwas entgegenzusetzen hat: Langeweile. Der hoch funktionierende Soziopath gammelt in seiner Wohnung herum, schießt Löcher in die Wand und lehnt sogar die Hilferufe seines Bruders Mycroft ab, weil ein paar verschwundene Geheimdokumente, von denen die Zukunft der freien Welt abhängt, ja wohl so spannend nicht sein können. Fast schon eine glückliche Fügung ist es da, dass eine Explosion das Nachbarhaus erschüttert. Sherlock ist zumindest teilweise interessiert – was sich in schiere Begeisterung steigert, als ein geheimnisvoller Anrufer ihm Nachrichten und ein Bild aufs Handy schickt. Zu sehen ist dort eine seltsame Szenerie: in einem verlassenen Zimmer stehen vor einem Kamin zwei Turnschuhe. Holmes erkennt sofort, dass nichts anderes als der Keller der einschlägigen Räumlichkeiten in der Baker Street zu sehen ist. Fünfmal hat der geheimnisvolle Anrufer klingeln lassen, was Holmes an die Sitte alter Geheimorganisationen erinnert, Morde mit fünf Melonen- oder Orangenkernen anzukündigen: offenbar hat ein mysteriöser Eindringling für Sherlock ein Rätsel drapiert, das dieser lösen muss, bevor es zum nächsten Anschlag kommt.
Prompt kommt ein Anruf herein, der ankündigt, dass Holmes 12 Stunden Zeit hat, einen Mord zu verhindern – verlesen vom armen, mit Sprengstoff behängten potentiellen Opfer selbst, dem der Missetäter seine Worte per Pager in den Mund legt. „The game is afoot!“, frohlockt unser Ermittler endlich wieder und wirft sich mit Gusto in den Fall. Eine kurze Analyse der Schuhe, an denen auch Watson sein Glück (natürlich völlig hoffnungslos) versuchen darf, liefert erstaunliche Ergebnisse: die Sneaker führen Holmes zurück zu seinem frühesten Ermittlungsversuchen, als zu Schulzeiten gewisser Carl Powers unter mysteriösen Umständen beim Schwimmunterricht ertrank. Der junge Holmes zweifelte damals schon an der offiziellen Version eines Unfalls und bekommt nun unverhofft die Chance, den Kasus endgültig zu ergründen. Dies gelingt ihm auch tatsächlich rechtzeitigt, aber der geheimnisvolle Widersacher erhöht den Einsatz prompt: viermal piepst es dieses Mal, Holmes hat nur 8 Stunden Zeit, das Rätsel zu entschlüsseln, das ihm per Bild als verlassenes Auto übermittelt wird. Holmes zeigt sich begeistert und wirft sich in die Bresche: ein gewisser Mr. Monkford ist seit einigen Tagen spurlos verschwunden, dessen letzte Spur in dem Mietwagen liegt, dessen Foto Holmes erhalten hat. Der Wettlauf gegen die Zeit und gegen widerspenstigen Zeugen beginnt von neuem…
In Band 3 seiner Holmes-Serie setzt Mangaka Jay das Erfolgsrezept der Reihe fort und hält sich streng an die von Mark Gatiss verfasste TV-Vorlage, die unter dem Titel „The Great Game“ im August 2010 die erste Staffel der Fernseh-Serie fulminant beendete und mit einem formidablen Cliffhanger aufwartete, der sich gewaschen hatte. Inhaltlich verwendet Gatiss dabei Motive der Conan Doyle-Story „The Bruce Partington Plans“ von 1908, in der ein junger Geheimdienstmitarbeiter, der Pläne für ein U-Boot bewachen sollte, tot neben einem Bahngleis aufgefunden wird. Die Idee der per Piepser angekündigten Morde ist zudem aus „The Five Orange Pips“ entlehnt, einer Story von 1891, in der Briefe mit fünf getrockneten Orangenkernen Warnungen vor bevorstehenden Morden darstellen. Die Rolle der fünf Kerne („pips“) übernehmen ganz im Einklang mit dem für die Reihe charakteristischen Transfer klassischer Motive in die Aktualität die fünf Piepser („pips“) des Handys, die wiederum an die Zeitpiepser im BBC Radio erinnern, die jeweils mit fünf Signalen die volle Stunden markieren, wie wir das aus seligen Zeiten des bayrischen Rundfunks ebenso noch kennen. Am Ende lässt Jay, der sich in seinen Zeichnungen bewährt nah an den Vorbildern orientiert, seinen Leser genauso offen hängen wie Gatiss den TV-Zuschauer, der doch eine ganze Weile warten musste, bis es dann 2012 mit „A Scandal In Belgravia“, einer Adaption des „Scandal in Bohemia“, endlich weiterging. So lange müssen sich die hungrigen Lesermäuler hoffentlich nicht begnügen. Und als Trost gibt es für alle Fans einen feinen Papp-Schuber inklusive Poster, in dem man die damit komplette erste Staffel auch standesgemäß im Regal verstauen kann. Schick! (hb)
Sherlock, Band 3: Das große Spiel
Text: Jay, nach dem Drehbuch von Mark Gatiss & Steven Moffat
Bilder: Jay
244 Seiten in Schwarz-Weiß, Softcover
Carlsen Verlag
14,99 Euro
ISBN: 978-3-551-72886-9