20.000 Meilen unter dem Meer (Insektenhaus)

Juni 7, 2021

Ende des 19. Jahrhunderts mehren sich seltsame Vorgänge auf den Ozeanen: immer wieder berichten Seeleute von einem seltsamen Monstrum, das Schiffe angreift und auch versenkt. Zunächst tut man das als Seemannsgarn ab, aber irgendwann scheint doch etwas an der Sache dran zu sein, weshalb man eine Expedition losschickt, um das Viech aufzuspüren. Mit an Bord ist der weltberühmte Wissenschaftler Professor Pierre Aronnax, der sich als kenntnisreicher Beobachter der Tiefsee-Kreaturen einen Namen gemacht hat. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis man auf ein furchterregendes, leuchtendes und schnaubendes Untier trifft, das das Schiff rammt. Aronnax und der Harpunier Ned Land werden über Bord geschleudert, der Diener Conseil will seinem Herrn zu Hilfe eilen und landet ebenfalls in Seenot. Rettung naht unverhofft, als sich das vermeintliche Seeungeheuer als Konstruktion aus Stahl herausstellt, die auftaucht und die drei havarierten Abenteurer an Bord nimmt.

So werden Conseil, Aronnax und Land unfreiwillige Gäste eines geheimnisvollen Fremden, der sich als Kapitän Nemo vorstellt. Nemo hat aus Gründen, die er für sich behält, jeden Kontakt zur Menschheit abgebrochen und im Stillen ein fantastisches Gefährt gebaut, das unter dem Namen „Nautilus“ die Weltmeere durchpflügt. Er wird begleitet von einer Mannschaft eingeschworener Gefährten, die sein elektrisch betriebenes U-Boot bedienen. Wer die Nautilus einmal zu Gesicht bekommen hat, der darf sie nie mehr verlassen, und so verbringen die drei Gestrandeten Monate an Bord, während Nemo zu einer Weltreise aufbricht. Dabei kommt es immer wieder zu spektakulären Zwischenfällen: Nemo agiert als moderner Robin Hood und verteilt Gold aus gesunkenen spanischen Galeonen an benachteiligte Oberflächenbewohner; mit grausamer Gewalt tötet er ein ganzes Rudel Pottwale; Kannibalen fallen über das gestrandete Schiff her, die Nemo ungerührt per Stromschlag loswird; gewaltige Kalmare greifen an und fordern diverse Todesopfer; Nemo erreicht als erster Mensch den Südpol und nimmt ihn für sich in Besitz; der staunende Aronnax besucht mit seinem Gastgeber die untergegangenen Ruinen von Atlantis. Schwankend zwischen Faszination und Freiheitsdrang, schmiedet Aronnax mit seinen Mitgefangenen dabei permanent Fluchtpläne, die eines Nachts dann in die Tat umgesetzt werden…

Jules Vernes Meisterwerk „Vingt mille lieues sous les mers“ (die korrekte Übersetzung müsste somit eigentlich „20.000 Meilen unter den Meeren“ lauten, da Nemo ja die sieben Weltmeere durchkreuzt) genießt für mich immer noch einen ganz besonderen Stellenwert – war es doch der erste „echte“ Roman, den ich jemals las, nachdem mir mein stets rühriger Vater den Wunsch „Bring mir doch bitte mal ein Buch mit“ prompt erfüllt hatte. Es war damals zwar „nur“ die etwas gekürzte Ausgabe im seligen Fischer Taschenbuch Verlag, aber Abend für Abend verfolgte ich im Scheine meiner Nachttischlampe (gerne auch mal etwas länger als erlaubt, aber es war ja Kultur und wurde somit von den Eltern großzügig „übersehen“) mit heißen Ohren die Abenteuer der Nautilus. Ich war, wie Generationen von Lesern vor mir, fasziniert von der schillernden Gestalt des Nemo, der mit der Menschheit gebrochen hat (eine Formulierung, die bis heute immer wieder Heiterkeit erzeugen kann) und mit einem fantastischen Gefährt die Tiefsee erforscht.

Wie stets bewegte sich Verne, der Vater der modernen Science Fiction, dabei möglichst nahe an der damaligen technischen Realität, in der es durchaus erste Ansätze zur Konstruktion von Unterseebooten, Taucheranzügen und der industriell genutzten Elektrizität gab (dass sich 150 Jahre später die Elektromobilität im Individualverkehr durchsetzen würde, damit rechnete aber wohl selbst Verne nicht). Die Dreingabe eines kundigen Wissenschaftlers, eines gewieften, treuen Dieners (der in der ungekürzten Ausgabe, die ich Jahre später las, seitenweise Klassen und Subklassen von Meeresbewohnern auflistet) und eines schlagkräftigen Haudegens verwendete Verne ebenso in der Gestalten des Professor Otto Lidenbrock und Hans Bjelke aus der Reise zum Mittelpunkt der Erde sowie in Passepartout aus der Reise um die Erde in 80 Tagen. In der finsteren Gestalt des Nemo kristallisiert sich zudem der Konflikt zwischen der Technikbegeisterung des ausgehenden 19. Jahrhunderts – die moderne Naturwissenschaft in Form der Nautilus ist der Umgebung haushoch überlegen – mit der Frage nach Moral, Gewissen und Kontrolle – Ned Land und auch Aronnax entfremden sich zunehmend von Nemo, offenbar ein ehemaliger indischer Prinz, der getrieben durch eine persönliche Tragödie, die nur vage angedeutet wird, auch vor kaltblütigem Mord nicht zurückschreckt.

Einen solchen Widerstreit zwischen Segen und Fluch der modernen Technik breitete Verne auch in den „500 Millionen der Begum“ aus, bevor er seinen Nemo dann in der „Geheimnisvollen Insel“ nochmals auftreten ließ. So weist Vernes Werk voraus auf einen seiner direkten Nachfolger H.G. Wells, der stets die Frage nach der Verantwortung stellte, nicht zuletzt in der Insel des Dr. Moreau. Vernes Roman avancierte schnell zum Publikumsliebling und geisterte auch bald über die Kinoleinwand, erstmals natürlich standesgemäß vom französischen Pionier Georges Méliès 1907, 1916 lieferte Stuart Paton eine Kombination der beiden Nemo-Geschichten, die gemeinhin als erstes Beispiel realistischer Unterwasseraufnahmen gilt, bevor dann 1954 Walt Disney seine Version kreierte (die zwar hübsch anzuschauen ist, aber bei weitem nicht die Dichte und Spannung der Vorlage erreicht, da kann Kirk Douglas noch so schön Banjo spielen). Auch auf den Comic-Seiten gab sich der Stoff ein häufiges Stelldichein, nicht zuletzt natürlich auf den Seiten der Illustrierten Klassiker oder in einer franko-belgischen Version der ausgehenden 70er Jahre.

Was der ehemalige Prinz Eisenherz-Zeichner Gary Gianni mit seiner hier nun vorliegenden Version abliefert, ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Geschickt präsentiert Gianni auf gedrängten 64 Seiten die zentralen Handlungselemente und inszeniert diese mehr als kongenial eng angelehnt an den Illustrationen, die Alphonse de Neuville und Édouard Riou für die Originalausgabe des Romans besorgten, wobei die Physiognomie der Protagonisten leicht abgewandelt wird. Das technische Wunderwerk der Nautilus erscheint dabei ebenso beeindruckend wie die Kampfszenen (durchaus alptraumhaft das Blutbad der Wale) oder die Wanderung durch das versunkende Atlantis, was Gianni jeweils auf ganzen Seiten ausbreitet. Den Einstieg wählt er wunderbar zeitgenössisch mit einer Zeitungsseite, auf der die Berichte über das seltsame Seeungeheuer zu finden sind, mit der der Ich-Erzähler auch im Roman die Schilderung beginnt.

Im Insektenhaus-Verlag erscheint der Band auch ansonsten in mehr als standesgemäßer Aufmachung: limitiert auf 1000 Exemplare, kann man sich hier an hochwertiger Optik erfreuen. Wie ein altes Logbuch ist das Hardcover gestaltet, mit goldener Schrift sowie Metall-Ecken – ganz eben, als ob man eine der ersten Ausgaben des Romans in Händen halte. Als Dreingabe gibt es noch in vollständigem Text die Short Story „Räuber der Meere“ zu bestaunen, die Vernes Genre-Kollege H.G. Wells unter dem Titel „The Sea Raiders“ 1896 ablieferte: wie schon bei Verne greifen auch hier monströse Kalmare an und verschwinden so schnell wieder, wie sie vor der Küste Englands aufgetaucht waren – die vom Verlag ausgelobte „Tentakel-Garantie“ ist damit in der Tat gewährleistet. Ein edler, wunderbarer Band somit, der mir einmal mehr bestätigt, dass der Herr Vater mich damals Ende der 70er auch in diesem Aspekt auf den rechten Weg brachte: anstelle die Zeilen des bei meinen Altersgenossen seltsam beliebten schriftstellerischen Kleingärtners Karl May zur Kenntnis zu nehmen, durchstrebte ich fortan mit Jules Verne fantastische Welten. Und das war doch deutlich spannender. (hb)

20.000 Meilen unter dem Meer
Text: Gary Gianni nach Jules Verne
Bilder: Gary Gianni
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Insektenhaus-Verlag
17,90 Euro

ISBN: 978-3-9488-0016-1

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