Nachdem in Ausgabe 3 die Historie und der Werdegang der einzelnen Charaktere – seien sie aus Fleisch und Blut, aus Metall, oder beides – beleuchtet wurde, treibt der aktuelle Band nun erwartungsgemäß die Story wieder voran. Die startet im ersten Kapitel mit einer originellen Parallel-Montage, in der drei Handlungsstränge nur mit dem Nötigsten an Text versehen jeweils einem (vorläufigen) Höhepunkt (!!!) zulaufen, um dann in den Folge-Kapiteln wieder auseinanderzudriften: Tim-21 (der Gute) und Tim-22 (der Böse) tragen auf der Oberfläche des Maschinenmonds einen erbitterten Kampf aus. Derweil planen im Inneren des Mondes, der eigentlich ein Asteroid und das Versteck von Hardwire, der Widerstandsbewegung der Roboter ist, Offizierin Telsa und Dr. Quon ihre Flucht. Und auf dem Planeten Sampson kommen sich Andy, der ehemalige menschliche Bruder von Tim-21 und Effie, dessen Verflossene, endlich wieder näher.
Dann geht es Schlag auf Schlag, Action ist angesagt. Tim-21 hat das „Bruder-Duell“ gewonnen (oder hat er nicht?) und kämpft sich gemeinsam mit Telsa und Quon in die vorläufige Freiheit. Vorher entdeckte man noch, dass Psius, der Chef-Roboter von Hardwire, eine ganze Blechkameraden-Armee in petto hat und damit offenbar nichts Gutes im Schilde führt. Auf Sampson müssen Andy und Effie nach ihrem Stelldichein ebenfalls die Flucht antreten, als ein gigantischer bezahnter Solarwurm (die Viecher gehören in ihren diversen Inkarnationen inzwischen zum Inventar eines jeden unwirtlichen Planeten) sie als Mahlzeit auserkoren hat. Zwei weitere Überraschungen folgen: Tim-21 ist nicht Tim-21, sondern Tim-22, der von nun an als Evil Twin als U-Boot und Spion bei Telsa und Quon fungiert. Und bei einem Szenenwechsel nach Niyrata, der Hauptwelt der UGC (United Galactic Council), erfahren wir, dass die UGC unter der Leitung von Telsas Vater ein eigenes Riesenroboter-Programm verfolgt, um sich vor kommenden Angriffen der Harvester zu schützen.
Klasse Story. Es wird dramatisch, als Tim-22 sich zu erkennen gibt. Es wird sentimental, als Tim-21 eine Nachricht an Andy schickt. Es droht massive Action, da sich sowohl Hardwire als auch die UGC für einen Krieg rüsten. Dazu gesellen sich veritable Cliffhanger (Telsa!) und neue Story-Ableger (Bohrer, der auf Woch „landet“, einem Planeten, der offenbar voller Überraschungen steckt). Und hinter all den Verzweigungen der Geschichte steht die drohende Rückkehr der Harvester, der vernichtenden Riesenroboter, von denen keiner weiß, woher sie stammen, wohin sie wieder verschwunden sind, und v.a. wer sie baute. Nur eines ist klar: Tim-21, der kleine, scheinbar unbedeutende Kinder-Roboter, der einst als künstlicher Spielkamerad gedacht war, trägt den Code der Harvester in sich und wird dadurch zum begehrtesten und gesuchtesten „Objekt“ der gesamten Galaxis. Ausgerechnet.
Und auch die andere Ebene ist wieder stark vertreten, aus der sich leider aktuelle Parallelen zu unserer Gesellschaft ziehen lassen: Rassismus in Gestalt des Hasses auf die Roboter, selbst wenn diese humaner handeln sind als mache Menschen. In Momenten wie der, als sich Andy und Effie (sie ist inzwischen eine halbe Roboterfrau) wieder näherkommen, fragt man sich, ob trotz aller Vorurteile der Hass überwunden werden kann, nur um gleich (und vorerst) eines Besseren belehrt zu werden. Und die Begegnung von Bohrer auf Woch mit dem menschlichen Opa Mizerd mutet an wie die von Frankensteins Monster mit dem blinden Einsiedler. Zwei Außenseiter eben. Optisch ist die Reihe von Jeff Lemire und Dustin Nguyen längst ihrer Konkurrenz entschwebt. Die federleichten handgemachten Aquarellpanels sind auch im vierten Band noch immer ein Augenschmaus. Auch gerade wegen der reduzierten, ausdrucksstarken Art und ihrer Konzentration auf das Wesentliche. So präsentiert auch Band 4 einmal mehr eine gelungene Verschmelzung aus innovativer Zeichenkunst und packender, komplexer Handlung. (bw)
Descender, Band 4: Orbitalmechanik
Text: Jeff Lemire
Bilder: Dustin Nguyen
120 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-169-7