Zehn Jahre ist es nun her, als die Harvester, mondgroße Riesenroboter, aus dem Nichts auftauchten, die neun Kernwelten des United Galactic Council (UGC) verwüsteten und Milliarden Leben vernichteten. Eine Katastrophe, von der sich das UGC bis heute nicht erholte, eine Katastrophe, die Auslöser des Robocausts war: Der Jagd auf Roboter aller Art und deren Vernichtung. Aber ausgerechnet ein im Prinzip unbedeutender Roboter, ein menschenähnlicher Spielgefährte namens Tim-21, „überlebte“ und trägt dieselbe Signatur wie die Harvester. Wie das? Und warum? Inzwischen wissen wir, dass Dr. Quon, der die Tim-Serie entwickelte und als Vater der Robotik gilt, ein Hochstapler ist, der sein Wissen von einem Roboter hat, der Millionen Jahre alt ist und der bei Ausgrabungen entdeckt wurde.
Nun sind Tim-21, Captain Telsa und Dr. Quon in den Händen von Hardwire, dem Roboter-Widerstand. Dessen Anführer, Psius, hat einen „Sohn“, ebenfalls ein Tim-Modell (Tim-22). Die drei werden auf die geheime Welt der Roboter gebracht, den Maschinenmond. Dort soll Tim-21 untersucht werden. Denn Psius deutet dessen „Traum“ (siehe Band 1) als Hinweis auf einen Schattenserver, auf dem die Datenspeicher aller zerstörten Roboter aufbewahrt sind. Eine Art existierendes Roboter-Paradies also. Derweil taucht Andy auf der Bildfläche auf. Vor zehn Jahren hatte er Tim-21 geschenkt bekommen, es entwickelte sich eine Freundschaft die abrupt beendet wurde. Nun verdient der verbitterte Andy sein Geld mit dem Jagen von Robotern, stößt zufällig auf die Spur von Tim-21 und macht sich gleich auf die Suche. Dabei trifft er zuerst den tumben wie verfressenen Schrotter Blugger und befreit anschließend den Rest der Tim-21 Gefährten. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Tim und benötigen dafür die Hilfe von Andys Ex-Frau, die nun halb Mensch, halb Roboter ist…
Wie menschlich darf ein Roboter sein? Und wie wird ein moderner Roboter – ähnlich wie ein Mensch – von der Umgebung, in der er „lebt“, beeinflusst? Tim-21 lernte Zuneigung und Freundschaft kennen. Menschliche Wärme. Er wurde praktisch ein Familienmitglied, brachte sich selbst menschliche Emotionen bei. Sein Pendant ist Tim-22, optisch identisch. Tim-22 lebte mehr oder weniger als Diener bei einem alten Mann, später in Gesellschaft des Robot-Widerstands. Er kennt kaum menschliche Regungen, tötet auf Verlangen. Trotzdem ist sein Verhalten menschlich, wie auch das von Psius, dem Chef der Robot-Rebellen. Zwar behauptet der, Telsa und Quon verschonen zu wollen, doch die unterstellen ihm Hinterlist und Rachegedanken. Und scheinen damit recht zu behalten. Die Roboter hassen die Menschen bzw. die intelligenten Kohlenstoff-Wesen aufgrund des Robocausts, handeln aber genau wie sie. So sind die Roboter im Descender-Universum eher als eigene „Rasse“ denn als Maschinen anzusehen. Die Frage ist nicht mehr, ob ein Roboter menschlich handelt oder „denkt“, sondern ob er, wie Tim-21 behauptet, auch träumen kann. Und dann auch noch ausgerechnet ein Traum von einer Art Roboter-Paradies… Ein interessanter philosophischer Ansatz mit ethisch-religiösen und geschichtlichen Anleihen.
Statt dem Geheimnis um die Harvester näher zu kommen, zieht Jeff Lemire seine Story noch weiter in die Breite. Neue Charaktere werden eingeführt, neue Planeten besucht und neue Handlungsstränge eröffnet. Das versorgt die Geschichte flüssig mit neuen und unerwarteten Impulsen. Und bringt mehr Komplexität in die Handlung. Mit Andy, dem ehemaligen Gefährten von Tim-21, betritt ein weiterer starker Charakter die Bildfläche. Wurde in Band 1 das „Leben“ von Tim-21 beleuchtet, wird hier in Rückblicken die Geschichte des jungen Andy gezeigt, seine Jugend als Einzelgänger, die sich rapide änderte, als er seinen Roboter-Spielkameraden bekam, bis zum fatalen Angriff der Harvester, als er von seiner Mutter verlassen werden musste. Es bilden sich zwei Gruppen mit zwei Handlungsebenen, die miteinander verknüpft sind. Tim-21, Captain Telsa und Dr. Quon sind in den Händen von Hardwire, während die Gruppe um Andy auf der komplizierten Suche nach ihnen ist.
Nicht nur die Story, sondern auch die neuen, bunt-schillernden Charaktere sorgen so für beste Unterhaltung. Blugger ist verfressen und gutmütig, immer mit einem lockeren Spruch auf den Lippen. Andys Motive liegen noch im Dunkeln. Wie in seiner Jugend (vor Tim-21) ist er erneut zum wortkargen Einzelgänger geworden, scheint aber eine turbulente Vergangenheit zu haben. Serviert wird all dies in Handarbeit. Zeichner Dustin Nguyen, der auch schon „Batman“ und „The Authority“ zeichnete, bricht hier mit den althergebrachten US-Zeichenkonventionen (Bleistift, Tusche, Farben. Meist Computer-unterstützt.) und stellt mit seiner elegant-zarten Aquarelltechnik seine außergewöhnliche Zeichenkunst unter Beweis. Dabei lässt er oft Hintergründe mutig außen vor und konzentriert sich auf die Personen. Der Rest bleibt weiß. Man erkennt die Struktur des Papiers, einzelne Pinselstriche, kann die Entstehung der Zeichnungen förmlich spüren. Das bringt frischen Wind und hilft zusätzlich die Serie aus dem Genre der SF-Comics hervorzuheben. Was man erstmal schaffen muss. (bw)
Descender, Band 2: Maschinenmond
Text: Jeff Lemire
Bilder: Dustin Nguyen
120 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-167-3