Alles beginnt mit einem Paukenschlag: aus dem Nichts tauchen auf den Planeten des Vereinten Galaktischen Rats gigantische Riesenroboter auf, die alsbald Tod und Verwüstung bringen. Es gibt Milliarden Tote. Und genauso plötzlich, wie die Harvester – so wird man sie später nennen – erschienen sind, verschwinden sie auch wieder. Niemand weiß, woher sie kamen und wer sie erbaute. Zehn Jahre später: die Harvester-Katastrophe und die Furcht vor einer Wiederholung führten zu einem Genozid an Robotern („Robocaust“). Auf einem abgelegenen Bergbau-Mond erwacht ein Junge. Nein, ein Roboter, der wie ein Junge aussieht. Tim-21 gehörte zu einer Reihe hochentwickelter künstlicher Gefährten für Kinder. Warum Tim nach zehn Jahren „erwacht“, wissen wir (noch) nicht. Fest steht: der Maschinencode der Harvester ist mit dem der Tim-21 Reihe identisch!
So wird die Jagd auf Tim, den wohl letzten seiner Art, eröffnet. Doktor Jin Quon, den man den Vater der modernen Robotik nennt, der die Tim-Reihe entwickelte und der nach der Ächtung der Roboter quasi arbeitslos ist, und Captain Telsa, eine resolute Offizierin der UGC (United Galactic Council) machen sich auf, um Tim auf dem verlassenen Minenstützpunkt aufzulesen. Doch eine Gruppe Schrotter scheint ihnen zuvor zu kommen. Schrotter sind Söldner vom Planeten Gnish, wo der Robocaust seinen Anfang nahm, die das All nach „überlebenden“ Robotern durchforsten, um diese einzusammeln und einzuschmelzen. Obwohl Quon und Telsa anfangs das Rennen um Tim-21 zu gewinnen scheinen, wendet sich das Blatt. Denn auch mit dem verhassten Doktor Quon wollen die Gnishis noch ein massives Hühnchen rupfen…
Zwischen dieser Story gibt es viele Überraschungen und spannende Momente. Und etliche Mysterien. Warum wacht Tim auf? Kann es wirklich sein, dass er träumen kann (zwar nicht von elektrischen Schafen, aber immerhin), wie er behauptet? Wie kommt es, dass die gigantischen Harvester und der kleine Tim die gleiche Signatur aufweisen? Und wird das Geheimnis um die Harvester letztlich gelöst? Dann steckt hinter diversen handelnden Personen mehr als es den Anschein hat, was zusätzliche Brisanz in die Handlung bringt. Und die Begleiter Tims, der „Hund-Roboter“ Bandit und der Bohr-Roboter mit der niederen künstlichen Intelligenz, die offenbar zu einem trockenen Humor führt, sind dabei witzig-originelle Sidekicks. Auch die Stilmittel zünden. So teilen Jeff Lemire (u.a. Sweet Toth, The Nobody, Animal Man) und Dustin Nguyen die Seiten auf, um Tims Geschichte zu zeigen: links die aktuelle Handlung, seine Flucht vor den Schrottern, vollfarbig und rechts die Rückblende in Sepiatönen. Auch auf klassische Paneleinteilung wird immer wieder verzichtet. Generell sind die Panels großzügig gestaltet, mit großformatigen Bildern, die manchmal auch kollagenartig eingelegt sind.
Natürlich finden sich immer wieder Motive und Anleihen aus diversen Science Fiction Werken. Ob das die Riesenroboter sind (Pacific Rim, oder kennt jemand noch Sigma Gigantic aus dem alten Zack?), Roboter als Gefährten für Kinder (A.I.: Künstliche Intelligenz), Weltraumpiraten (Das Fünfte Element) oder in der Tiefe fremder Welten verborgene Spuren vergangener Zivilisationen (Ocean, von Warren Ellis oder der SF-Klassiker Forbidden Planet mit Frank Drebin 😉 ) – weitere Beispiele fänden sich noch zur Genüge. Jeff Lemire benutzt all diese Motive nicht um es sich leicht zu machen, sondern um damit eine frische Erzählung in einem neuen, eigenen SF-Universum zu schaffen. Die ist fulminant, bedacht und nimmt zwischendurch immer mal wieder an Fahrt auf, gerade wenn man nicht damit rechnet. Dabei tun sich ständig neue Wendungen und Wege auf, das Geheimnis, das es zu klären gilt, wird immer größer und komplexer statt klarer. Gut so, dann dadurch entwickelt sich die Handlung zum wahren Pageturner, man lässt sich nur zu gerne in den Sog ziehen, den all die verschiedenen Personen und Wendungen auslösen.
Noch bevor man in die Story eintaucht, fallen sofort Zeichnungen und Farben auf, die nach echter Handarbeit aussehen: Dustin Nguyen, der sonst üblicherweise Superhelden in Szene setzt (meist Batman-Reihen bei DC), zeigt hier eindrucksvoll, was er kann: Aquarell-hafte Panels mit viel Eleganz. Mal detailliert, mal skizzenhaft, immer sehr ausdrucksstark und künstlerisch, weit weg vom US-Mainstream. Getaucht in eine zarte und dezente Farbgebung, die kräftiger wird, wenn es die Handlung erfordert. Dazwischen bleibt immer ganz viel weiß, was karge Welten und klinisch-kalte, metallische Umgebungen unterstreicht. Wie schon bei der Unterwasser SF-Reihe ‚Low‘ beweist Splitter auch hier ein gutes Händchen bei der Auswahl seiner US-Serien. Mal sehen ob das auf ‚Fight Club 2‘ – die Besprechung folgt in Kürze – ebenfalls zutrifft. (bw)
Descender, Band 1: Sterne aus Blech
Text: Jeff Lemire
Bilder: Dustin Nguyen
144 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-166-6