Descender, Band 3 (Splitter)

März 30, 2017

Originelle Idee: im neuen Band ihres SF-Epos‘ „Descender“ arbeiten Autor Jeff Lemire (dessen „Moon Knight“ wir gerade besprochen haben) und Zeichner Dustin Nguyen mit einem formidablen Kniff, der die Story an sich zwar nicht sonderlich voranbringt, dafür aber als ausgedehntes Intermezzo die Vergangenheit (fast) aller Hauptpersonen, natürlich inklusive der Roboter, erhellt. Jedes Kapitel – also jedes US-Heft – ist einem oder zwei Charakteren gewidmet und beginnt zehn Jahre zuvor, also mit dem verheerenden Angriff der Harvester auf die Welten des UGC (United Galactic Council), des Vereinten Galaktischen Rates. Zur Erinnerung: die Harvester waren gigantische Roboter, die aus dem Nichts auftauchten und die Tod und Vernichtung mit sich brachten, ehe sie wieder spurlos verschwanden. Bis heute hat sich das UGC davon nicht erholt. Eine direkte Folge dieser Katastrophe war der Robocaust, die Verfolgung und Vernichtung der Roboter.

Los geht’s mit dem „Hauptdarsteller“, bzw. der „Schlüsselfigur“ der Serie. Oder besser gesagt, dessen „Bruder“. Die Anführungszeichen deshalb, weil es sich um kein Wesen aus Fleisch und Blut, sondern um einen hochentwickelten Roboter handelt, der äußerlich von einem Kind nicht zu unterscheiden ist. TIM-21, der den Maschinencode der Harvester in sich trägt und daher von allen gejagt wird, fand im letzten Band eben diesen „Bruder“, TIM-22. Nur ist der bösartig und duldet seinesgleichen nicht. Wie und warum TIM-22 zum finsteren, bösen Pendant wurde, erklärt die Episode. Das nächste Kapitel widmet sich Telsa, der aufmüpfigen und rebellischen Tochter von General Nagoki und berichtet, wie und warum sie zur Armee ging. Auch der Werdegang von Bandit (dem Kläff-Bot 😉 ) wird beleuchtet, der geschickt zur „Wiederbelebung“ von TIM-21 auf dem Bergbaumond Dirishu-6 führte. Natürlich darf die Geschichte von Andy und Effie nicht fehlen. Wir erfahren, warum Effie die Seiten wechselte und sich von Andy entfremdete. Und als abschließendes Schmankerl wird in einer amüsanten wie nachdenklichen Episode die Herkunft von Bohrer geschildert, des vermeintlich tumben Minenroboters, der als wenig eloquenter Sidekick seinen festen Platz in der Serie hat.

Nguyens Stil: Konzentration auf das Wesentliche

Auch in diesen Rückblenden kommt immer wieder die starke zweite Ebene der Serie zum Tragen. Nämlich der Trick, dass die Roboter von den Autoren nicht nur (zumindest meistens) menschenähnlich sind, reden und handeln, sondern auch mit den Menschen (und anderen „Kohlenstoff“-Aliens) auf eine Stufe gestellt werden. So erhalten die Gespräche der beiden Minenroboter, die eigentlich „fürs Grobe“ da sind, und in denen sie sich über ihren unfreundlichen Besitzer und die unerreichbare Welt da draußen unterhalten, eine ganz andere Dimension. Auch Effie, die früher wie ihr Ex Andy ein Schrotter war, also Jagd auf Roboter machte, änderte ihre Gesinnung um 180 Grad und wurde zur Aktivistin für die Rechte der noch verbleibenden Roboter. Gerade dadurch, dass Roboter menschliche Züge und Eigenschaften bekommen, wird die Entmenschlichung ihrer Häscher verdeutlicht. Anklänge an Spielbergs „A.I.: Künstliche Intelligenz“ sind dabei sicher beabsichtigt (siehe auch „Ex Machina“ als Beispiel neueren Datums). Die Story an sich, die sich in den ersten beiden Bänden entwickelte, wird hier quasi eingefroren oder nur häppchenweise vorangebracht. Keine neueren Infos zu den Harvestern oder zu TIM-21 – hier wird es wohl in Band 4 wieder weitergehen.

Das zweite Pfund der Serie sind natürlich die Zeichnungen Dustin Nguyens, die im letzten Jahr mit dem Eisner Award prämiert wurden. Konsequent zeigt er hier einmal mehr den Mut zur Lücke bzw. zum Minimalismus und beweist mit seinen Aquarell-Panels stilistisch und farblich große Handwerkskunst. Gerade deshalb strahlen die Bilder eine formidable Eleganz aus, was die Reihe nachhaltig prägt. Große Flächen der Panels, bzw. der Seiten bleiben weiß, die Abbildungen konzentrieren sich auf das Wesentliche (man erkennt sogar wieder die Struktur des Zeichenpapiers). Wo es dann erforderlich ist, bringt Nguyen scheinbar mühelos Details und Hintergründe ein. Und dank des feinen Aquarell-Pinselstriches sieht das so oder so immer gut aus. Wie Lemire und Nguyen mit ihrer Serie beeindrucken, beweist auch, dass sich Hollywood die Rechte für eine Verfilmung schon vor einiger Zeit gesichert hat. Band 4 ist bereits in Vorbereitung und soll im September dieses Jahres erscheinen. (bw)

Descender, Band 3: Singularitäten
Text: Jeff Lemire
Bilder: Dustin Nguyen
120 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
22,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-168-0

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