René Goscinny, Comic-Autor. Selbst arme Tröpfe, die mit Comics eher wenig am Hut haben, kennen „Asterix“. Und damit auch René Goscinny. Und wissen vielleicht auch, dass er „Lucky Luke“ (geschaffen von Morris) zu dem legendären Cowboy gemacht hat, als den wir ihn kennen. Und ja, auch der Indianer „Umpah-Pah“ (wie Asterix mit Uderzo) und der Großwesir „Isnogud“ (mit Tabary) stammen von ihm. Und „Der Kleine Nick“ (mit Sempé), um damit mal die Spitze des schöpferischen Eisbergs Goscinnys zu beschreiben. Marcel Gotlib dagegen ist eben jenen armen Tröpfen gänzlich unbekannt. Selbst Comicfans mag die Nennung des Namens lediglich eine ferne Erinnerung hervorrufen, wurde das ebenfalls sehr umfangreiche Oevre des Pariser Humor-Zeichners doch hierzulande, was Veröffentlichungen betrifft, doch sträflich vernachlässigt, vor allem in den letzten Jahren und gar Jahrzehnten. In den Achtzigern und Neunzigern gab es diverse Gotlib-Titel, hauptsächlich im Volksverlag („Witzbold“); im deutschen Pilot, das nur wenige Jahre durchhielt, war er regelmäßig vertreten. Tatsächlich sind „Die Dingodossiers“ die erste Veröffentlichung eines Gotlib-Werkes im neuen Jahrtausend. Was äußerst schändlich ist und wenn Splitter mit seinem toonfish Label nun antritt, diesen Missstand zu ändern (in Kürze erscheint auch eine Neufassung von Gotlibs „Superdupont“ mit Francois Boucq am Zeichenstift), dann ist das mehr als lobens- und erwähnenswert.
Denn Gotlibs Strich ist einmalig. Ganz klar im Funny angesiedelt, elegant und dabei ausdrucksstark ohne Ende, v.a. was Komik betrifft. Die Mimiken seiner Personen, v.a. wenn sie bedröppelt und bedient nach diversen Missgeschicken den Leser direkt ansehen, filmisch gesprochen in die Kamera blicken, lässt einen an die Figuren eines Don Martin erinnern, was vielleicht sogar beabsichtigt war. Und urkomisch ist. Tatsächlich sind „Die Dingodossiers“ ein Frühwerk Gotlibs (beinahe sogar der Erstling) und eines von etlichen „Nebenprodukten“ im schaffensreichen Leben Goscinnys. Die Geschichten und Episoden, die Dossiers eben, lehnen sich in ihrem Wesen an die Stilart eines „Mad“ an: einfache Dinge oder Vorgänge des Alltags werden Reportage-artig vorgestellt, verdreht, überzogen und damit ins Komische transportiert. Und Goscinny kannte die Herren, die „Mad“ erdachten, allen voran Harvey Kurtzman. „Die Dingodossiers“, die hier erstmals auf Deutsch und komplett vorliegen, erschienen zwischen 1965 und 1967 zweieinhalb Jahre lang im französischen Pilote, der Zeitschrift, die von Goscinny mitbegründet wurde und in der sein und Uderzos „Asterix“ erschien. All diese Comic-historischen Begebenheiten, die den Leser eindrucksvoll und endgültig überzeugen, dass es eine Vorsehung und keine Zufälle gibt, beschreibt das ausgiebige Vorwort, das ganz im Stile des kompletten Bandes vor feinem Humor und leiser Ironie nur so strotzt.
Was für den einen – bereits etabliert und berühmt – vielleicht nur eine kleine Fingerübung für einen noch unbekannten, aber aufstrebenden Zeichner war, war für eben diesen das Sprungbrett und der Startschuss zu einer imposanten Karriere, auf die er sich voller Enthusiasmus stürzte. Das Ergebnis sind „Die Dingodossiers“ (der Name bezieht sich nicht auf den Australischen Wildhund, sondern ist ein Wortspiel: „dingue“ heißt soviel wie „verrückt“ oder „irre“). Die meist zweiseitigen Dossiers sind in Schwarz-Weiß gehalten (bisweilen auch länger und ab und an in Farbe) und behandeln stets entscheidende und wichtige Themen: Was wenn sich Erwachsene wie Kinder benehmen würden? Was denken Menschen bei der Arbeit wirklich? Was, wenn es schon immer Fotografie gegeben hätte? Der Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit. Oder sie geben Tipps über Kinofilme, damit man schon zu Beginn weiß, wie der Film ausgeht und das Kino verlassen kann, um zuhause Fernsehen zu schauen. Eine Hauptfigur bieten die Episoden nicht, immer wieder wird aber der Schüler Kasper als Anschauungsobjekt zitiert. Ansonsten sind der komischen Fantasie der beiden Autoren keine Grenzen gesetzt. Einige Dossiers muss man im Kontext der Zeit des Entstehens betrachten, andere verweisen gerne auf das Magazin Pilote und dessen Autoren und selbst Asterix und Obelix werden bisweilen Teil der Geschichten. toonfish (bzw. Splitter) greift hier ganz tief in die Comic-Historien-Kiste und hebt erfolgreich und mutig einen Schatz, der rundum gelungen präsentiert wird (man beachte die Vorsatzseiten am Anfang und am Ende) und der ein kleines, eher unbekanntes Fenster in vergangene Comic-Zeiten öffnet. (bw)
Die Dingodossiers
Text: René Goscinny
Bilder: Marcel Gotlib
280 Seiten in schwarz-weiß und Farbe, Hardcover
toonfish / Splitter Verlag
39,95 Euro
ISBN: 978-3-95839-924-2