Orakel, Band 1 (Splitter)

März 2, 2015

Orakel, Band 1 (Splitter)

Griechenland in der Antike (in anderen Worten: lange vor der Zeit, als das spaßige Völkchen sich Geld auslieh, den Verleiher dann beschimpfte und irgendwie nicht einsah, etwas zurückzuzahlen): in Delphi, dem Ort des Orakels, tritt ein blinder Wanderer auf, der begeisterten Kindern Geschichten von Menschen, Sehern und Göttern erzählt. Genau am selben Ort, in Delphi, trägt sich seine erste Erzählung zu: weil die Pythia, die Seherin im Tempel des Gottes Apollo, dem Spartaner-König Eukratides keine allzu großen Hoffnungen auf eine glanzvolle Karriere geben kann, macht dieser sie kurzerhand einen Kopf kürzer. Die kleine Aspasia, die alles mit ansehen muss, tritt Jahre später ihre Nachfolge an. Atemberaubend schön, verdreht sie Männern und Königen den Kopf, die es sich gerne einmal ein stolzes Sümmchen kosten lassen, ihre Weissagung zu hören und mit ihr zu speisen. Ein angeblicher Händler entpuppt sich allerdings als der Gott Apollo selbst, der derartig in Verlangen für die holde Seherin entbrannt ist, dass er sich gewaltsam sein Vergnügen mit ihr holt und dann entschwindet – mit der Konsequenz, dass Aspasia ihre Gabe verliert, in die Zukunft zu sehen, und ihn auf ewig verflucht, auch weil er sie fürchterlich entstellt.

Zwei letzte Visionen sind ihr allerdings geblieben: in einer schwingt sich Apollo zum Herrscher über den Olymp auf, in der zweiten trägt seine Schwester Athene zu seinem Fall bei. Nachdem sich eben jene alsbald ins Geschehen einschaltet, zettelt Aspasia einen geschickten Rachefeldzug an: König Eukratides lässt sich nur allzu willig dazu einspannen, alle Tempel und Denkmäler des Apollo zu zerstören und die Götter so zu provozieren, dass es zur Schlacht um den Olymp selbst kommt. Eukratides und seine Truppen gelingt es tatsächlich, ins Allerheiligste der Götter einzudringen, Zeus himself zu konfrontieren und einen Versuch zu unternehmen, den Göttervater selbst zu töten. Aber dann stellt sich heraus, dass alles eigentlich ganz anders war, dass Athene eine abgefeimte List der Pythia von Anfang an durchschaute und alles die ganze Zeit nach ihrer Pfeife tanzte… und mit dieser Feststellung von der Schwachheit der Menschen und Göttern gleichermaßen endet die erste Erzählung des Wanderers, der auf seinem Weg ab sofort einen kleinen Jungen mitnimmt, der von ihm das Geschichtenerfinden lernen möchte und auf einen ganz berühmtem Namen hört.

Mit Orakel legt uns Splitter das vor, was landläufig als Konzeptserie bezeichnet wird: in fünf Alben nutzen fünf Autoren und Zeichner nach einem Konzept von Jean-Luc Istin (Nirwana, Götterdämmerung, beide bei Splitter) jeweils die Grundidee des alten Wanderers, der wie in einem Episodenroman à la Ray Bradburys ‚Illustrated Man‘ als Bindeglied zwischen den einzelnen Erzählungen fungiert, die allesamt um den Themenkomplexe Rache kreisen, die auf irgendeine Art geschundene Sterbliche an den Göttern nehmen wollen. Diese an die antiken Tragödien angelehnten Handlungen setzen Menschen und Götter gleichberechtigt nebeneinander, Menschen wie Übermenschen (und Titanen!) schenken sich nichts in Sachen Eifersucht, Egoismus und Machtstreben.

Im vorliegenden Auftakt spinnt Olivier Peru (Der Krieg der Orks, Nosferatu, Elfen, Lancelot, Zombies, alle bei Splitter) ein perfides Netz von Intrigen und Verrat, das auf einen furiosen Twist hinarbeitet, in dem diejenigen als Marionetten dastehen, die das Schicksal doch eigentlich kontrollieren wollten. Inszeniert wird das Geschehen von Stefano Martino (der für Peru bereits Nosferatu inszeniert) in kraftvollen, großflächigen, teilweise durchaus gewalttätigen Panels, die unter anderem durch ein monumentales, doppelseitiges Schlachtengemälde von Eukratides Angriff auf die Kultstätten des Apollo beeindruckt. Durch die leitmotivische Figur des Orakels entsteht ein facettenreiches Werk, das mit den schon in Vorbereitung befindlichen weiteren Episoden Der Sklave, Der kleine König, Der Bucklige und Die Witwe spannungsreich weiterlaufen dürfte. (hb)

Orakel, Band 1: Die Pythia
Text: Olivier Peru, nach einem Konzept von Jean-Luc Istin
Bilder: Stefano Martino
48 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
14,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-000-3

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