Nautilus, Band 1 (Splitter)

Januar 19, 2023
Nautilus, Band 1: Das Schattentheater

Bombay 1899: es brodelt im Juwel der Krone, dem britischen Raj. Hinter den Kulissen läuft das „Große Spiel“ ab, ein Ränkewettbewerb zwischen England und Russland um die Vorherrschaft in den Kolonien und letztendlich der ganzen Welt. Der Geheimagent Kimball O’Hara, in Indien unter dem Decknamen Kim unterwegs, versucht zu intervenieren, gerät aber massiv zwischen die Fronten. Bei einem Treffen von russischen und englischen Honoratioren im Hafen von Bombay beobachtet er gerade noch, wie ein Verräter aus den eigenen Reihen Geheimdokumente an einen russischen Spion übergibt und Teile davon im Tresor des Schiffs platziert. Kurz darauf wird die HMS Southampton von einem Torpedo versenkt und sinkt auf den Grund des Hafenbeckens. Kim staunt nicht schlecht, als ihn seine alte Weggefährtin Jaya für den Zwischenfall verantwortlich macht und ihn der Intrige bezichtigt.

Kim kann fliehen und rettet sich zu seinem alten Ziehvater Colonel Creighton, der ihm einen entscheidenden Hinweis gibt: wenn Kim seine Unschuld beweisen und dazu den Tresor vom Grund des Hafenbeckens heben will, kann nur ein Mann zu Hilfe eilen – der legendäre Kapitän Nemo, der mit seiner Nautilus die Welt in Angst und Schrecken versetzte und nach dem Untergang seiner Basis auf einer entlegenen Insel vom russischen Geheimdienst in ein Hochsicherheitsgefängnis nach Sibirien verschleppt wurde. Kim gelangt tatsächlich in die eisige Festung mit dem treffenden Namen „Haus der Toten“, wo man ihn wie geplant im Keller einkastelt, wo auch der mysteriöse Nemo sein Dasein fristet, der sich anfänglicher Ablehnung langsam aber sicher für Kims Ziele begeistern kann…

Im Rezeptbuch der Literatur steht die Mischung, die Mathieu Mariolle hier anrührt, unter dem Buchstaben „A“ wie „Apokryph“: womit in erster Linie religiöse Schriften zweifelhafter Herkunft, aber auch generell Werke gemeint sind, die in irgendeiner Form inoffiziell, nicht zum gängigen Kanon zu zählen sind. In der Comicwelt kennen wir das ein wenig schmissiger formuliert als Crossover, und genau das kredenzt uns Mariolle hier meisterhaft. Wie dies Sylvain Cordurié mit Sherlock Holmes virtuos vorgeführt hat, mischt Mariolle fiktive und geschichtliche Welten zu einer ebenso spannenden wie komplexen Neuinterpretation. Dabei bedient er sich zwei Protagonisten der Weltliteratur, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite steht da Kimball O’Hara, der Titelheld aus Rudyard Kiplings Schlüsselroman „Kim“, der – 1902 erschienen – lange Zeit als Kinderbuch galt und erst später als wunderbare Reflexion über Identität und Lebensgehalt verstanden wurde: der Straßenwaise Kimbal aus Irland wächst in Indien unter der Obhut eines spirituellen Lehrers auf, wandert auf einer Reise ins Ich durchs Land und verdingt sich am Ende im britischen Geheimdienst, immer changierend zwischen den Welten und konfrontiert mit der Frage „Who is Kim?“.

Mit diesem vielschichtigen Roman gelang Kipling ein Gegengewicht zu Werken wie „The Man Who Would Be King“ oder vor allem dem Gedicht „The White Man’s Burden“, die ihn lange Zeit als reaktionären Kolonialisten abstempelten. Mariolle nimmt nun den fiktiven Faden auf, indem er eine Geschichte spinnt, die den erwachsenen Geheimagenten Kim begleitet. Der sieht sich im „Großen Spiel“ verstrickt, das auch Kipling schon andeutet und das auf das Pulverfass des ersten Weltkriegs hinausläuft. Dass hier nun auf der anderen Seite der Antiheld aus Jules Vernes wunderbaren „20.000 Meilen unter den Meeren“ steht, vermag aufmerksamen Anhängern des Romans nicht ganz überraschend – immerhin findet sich in den in der Tat sehr dürftigen Hinweisen auf Nemos Herkunft die Anspielung, er sei ein indischer Prinz, der eine persönliche Tragödie erlitten und daher – immer wieder schön – mit der ganzen Menschheit gebrochen hat.

Exakt damit lockt Kim den Gefangenen hier aus der Reserve: seine Vergangenheit als Prinz Dakkar, dessen Familie bei einem Aufstand ums Leben kam, treibt Nemo immer noch um. Auch die „Fortsetzung“ des Romans lässt Mariolle mit einfließen: der totgeglaubte Nemo taucht auf der titelgebenden „Geheimnisvollen Insel“ wieder auf, die ihrerseits durch einen Vulkanausbruch vernichtet wird – von wo Mariolle den Kapitän dann ins russische Exil verschleppt. Die Nautilus als phantastisches Gefährt kommt erst auf der letzten, wahrlich spektakulären Doppelseite zum Tragen, als gewaltiges Wunderwerk, das eher einem Wal ähnelt als die zackige Konstruktion aus der hübschen Walt Disney-Verfilmung aus den 50ern. Auch ansonsten geht die optische Gestaltung durch Guénaël Grabowski, der hier sein Debut als Zeichner gibt, mehr als in Ordnung, mit dynamischem Strich und rasanter Blickführung. Alles ist vorbereitet für eine zackige Pastiche, um einen weiteren Begriff der Literaturwissenschaft zu bemühen – und der Titel von Band 2, zu haben ab April, weist dabei den Weg: „Mobilis in Mobile“ steht bekanntlich auf allen Gegenständen an Bord der Nautilus zu lesen. Wir sind gespannt. (hb)

Nautilus, Band 1: Das Schattentheater
Text & Story: Mathieu Mariolle
Bilder: Guénaël Grabowski
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
16 Euro

ISBN: 978-3-96792-300-1

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