Hundert Jahre Erster Weltkrieg. „Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich“, so lautet der Untertitel dieses Comics. Die Geschichten sind die von vier Schreibern von Kriegstagebüchern, je zwei aus beiden Ländern: Walter Bärthels Tagebuch setzt vor dem Krieg ein, im Jahr 1913. Er geht noch zur Schule und als die Mobilmachung bekannt wird, meldet er sich wie seine Mitschüler mit größter Begeisterung freiwillig zur Armee (eine Szene, die an den Anfang von Im Westen nichts Neues erinnert). Der kleine René Lucot ist erst sechs, als der Krieg beginnt. Aus kindlich naiver Sicht sieht er die ersten französischen Soldaten und muss vor den noch unsichtbaren Deutschen nach Dijon fliehen. Agnes ‚Nessi’ Zenker ist bei Kriegsausbruch fast 14, voller Vaterlandsliebe, ihrem Kaiser treu ergeben und lässt sich von der Kriegseuphorie über die ersten deutschen Erfolge anstecken. Lucien Laby will Arzt werden. Er studiert Medizin, wird Sanitäter und erlebt als erster der vier die Schrecken des Krieges, gerät sogar kurz in deutsche Gefangenschaft.
So öffnen sich nach und nach für den Leser vier unterschiedliche Fenster in die Vergangenheit, als in Europa der Erste Weltkrieg begann und tobte. Statt nüchtern dokumentarisch die Historie des Krieges abzubilden, wählte man für dieses Buch vier Einzelschicksale, vier junge Leute, vier Geschichten, die so wirklich geschehen sind und die in der Folge abwechselnd erzählt werden, zum Teil mit Original-Auszügen, die meist am Ende der Episoden stehen. So erlebt Walter den Grabenkrieg im Winter, entgeht knapp einer feindlichen Granate und wird schließlich bei einem Angriff schwer am Fuß verwundet. Für ihn ist der Krieg vorbei. Er laboriert lange an seiner Verletzung, geht wieder zur Schule und wird Student. René kann wieder nach Hause zurückkehren. Er hat aufgrund des Frontnähe ständig Kontakt zu Soldaten und sieht deren körperlichen Verfall mit Fortschreiten des Krieges. Dann stirbt seine Mutter. Als das Bombardement immer näher kommt, flieht er erneut, dieses mal nach Paris. Nessi erlebt den Hunger in der Heimat und sehnt sich schon bald nach Frieden. Sie begegnet einem metallenen Ungetüm, das man später Panzer nennen wird und sieht sich am Ende des Krieges einer ungewissen Zukunft entgegen. Lucien kämpft bei Verdun einen aussichtlosen Kampf als Sanitäter. Sein großer Wunsch – ein Orden – bleibt ihm verwehrt. Er erlebt weiter das Sterben bei Freund und Feind. Am Ende wird er – weg von der Front – in den Sanitätsdienst versetzt und bekommt doch noch seinen Orden.
Hundert Jahre sind diese Geschehnisse und der Beginn des Ersten Weltkriegs nun her. Ein Ereignis, das in allen Medien behandelt wird. Neue Forschungsergebnisse zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts werden in Büchern veröffentlicht, das Fernsehen bringt zahlreiche Doku-Reihen (eine ähnliche Idee: ‚14 Tagebücher’ auf Arte), mit Valiant Hearts erschien selbst ein Videospiel zum Thema, das hoch gelobt wird. Die Illustrationen für das Internet-Projekt Zeitmaschine 14/18 stammen vom Straßburger Comiczeichner Cyril Bonin (Fog, bisher acht Bände bei Comicplus). Weiter im Bereich Comic kommt man an den Werken Jacques Tardis nicht vorbei, der seit vielen Jahren den Krieg – nicht nur den Ersten Weltkrieg – thematisiert. Und nun Tagebuch 14/18, der erste Titel des neuen Tintentrinker Verlages. Das Besondere: der Band erscheint zeitgleich in Deutschland und in Frankreich (dort als „Carnets 14-18: Quatre histoires de France et d’Allemagne“ bei Éditions le buveur d’encre). Unterstützt wird das Buch u.a. von Deutschlandradio und Radio France. Zwei Historiker wirkten außerdem mit, was die genauen historischen Darstellungen erklärt: so verschwindet bei Walter die Pickelhaube (die man nur bis 1915 verwendete) und wird im Jahr 1916 durch den Stahlhelm ersetzt.
Alle vier Protagonisten überleben den Krieg. Vollends real werden sie im Anhang, als deren weiteres Leben in einigen Bildern geschildert wird (René wird Regisseur, Walter wandert nach Schweden aus). Ein ausführliches, erläuterndes Glossar zu den im Comic behandelten Geschehnissen beendet den Band. Die Fenster zur Vergangenheit schließen sich wieder. Seltsam und gestrig erscheinen dem Leser der offen gezeigte Hass zwischen den Ländern, die unreflektierte Haltung zum Krieg, die fast schamlose Begeisterung und bedingungslose Vaterlandstreue. Eigenschaften, die wir uns auch aufgrund zweier Weltkriege glücklicherweise abgewöhnt haben. Am Ende hinterlässt der Krieg Narben bei Siegern und Besiegten. Vor allem letztere werden nichts daraus lernen. Der Band ist eine aufschlussreiche, wichtige Geschichtsstunde, die aufgrund der Comicform auch dem einen oder anderen Lese- oder Geschichtsmuffel den Ersten Weltkrieg näher bringen kann. Das wäre dann schon ein großer Erfolg. Denn wie sagte schon August Bebel: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen“. (bw)
Tagebuch 14/18: Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich
Text: Alexander Hogh
Bilder: Jörg Mailliet
118 Seiten in Farbe, Hardcover
Tintentrinker Verlag
20 Euro
ISBN: 978-3-98163-231-6