Der Fall Alan Turing (bahoe books)

Januar 3, 2022
Der Fall Alan Turing (bahoe books)

Großbritannien, 1939: Agent Morris erhält den Auftrag, für die Government Code and Cyphre School, kurz GC&CS, die hellsten Köpfe des Landes ausfindig zu machen. Ausgerechnet die besten Mathematiker, Kryptographen, Schachspieler und sonstigen Genies sollen dem Krieg gegen Deutschland die entscheidende Wendung geben. Die Mission: die Verschlüsselung der Funksprüche, mit denen die deutsche Wehrmacht ihre Aufträge erhält, zu knacken. Der Gegner ist dabei die Enigma, eine elektrische Chiffriermaschine, die den eingegebenen Klartext in einen scheinbar sinnlosen Zeichensalat verwandelt, der nur mit einer zweiten Enigma aufgelöst werden kann, die den identischen Schlüsselcode verwendet. Und nachdem die Deutschen diesen Code täglich ändern, bleibt jeder Versuch, das Rätsel zu lösen, ein hoffnungsloser Wettlauf, den die Experten im südenglischen Bletchley Park Tag für Tag verlieren.

Auch der junge Alan Turing, der ebenso durch brillante mathematische Arbeiten von sich reden macht wie durch sein exzentrisches, nicht unbedingt soziales Verhalten, wird von Morris angeheuert. Nach kurzer Zeit erkennt Turing, dass das menschliche Gehirn gegen die Enigma keine Chance hat – er ist überzeugt, dass die geniale Maschine nur von einer anderen Maschine geschlagen werden kann. Auch wenn der Leiter von Bletchley Park, Denniston, das Treiben des Sonderlings skeptisch beäugt, lässt man Turing gewähren und mit seinem Team eine Maschine konstruieren, die die Technik der Enigma nachahmt – ein „imitation game“, das anfänglich allerdings von Fehlschlägen begleitet wird: auch die „Victory“ schafft es nicht, die abgefangenen Funksprüche zu entschlüsseln.

Offenbar haben die Deutschen ihre Maschine verbessert, aber Turing gibt nicht auf, fordert vehement mehr Zeit und Geld, was er schließlich nach einem Brief an Premier Churchill auch erhält. Durch immer mächtigere Maschinen, die man aufgrund ihrer Lautstärke „Bomben“ nennt, gelingt es Turing schließlich tatsächlich, die Enigma zu besiegen und den Alliierten somit den Schlüssel zum Sieg in die Hand zu geben. Aber anstelle als gefeierter Held in die Geschichte einzugehen, gerät Turing nach Kriegsende ins Zwielicht: immerhin sollen die alten Freunde und neuen Feinde aus Russland nie erfahren, welche technischen Errungenschaften in Bletchley Park entstanden sind. Man sieht Turing zunehmend als Risiko – aber die wahre Katastrophe, die das Leben dieses Genies beenden wird, ereilt Alan Turing aus gänzlich anderen, viel privateren Gründen…

Das unrühmliche Schicksal von Alan Turing gehört sicherlich zu den finstersten Kapiteln der englischen Zeitgeschichte. Der Mann, der nicht nur maßgeblichen Anteil an der Erfindung der intelligenten Rechenmaschinen namens Computer hatte (Konrad Zuse arbeitete ungefähr zeitgleich an seinen Z-Rechenmaschinen), sondern dem Kriegsgeschehen auch eine entscheidende Wendung gab, beging 1954 Selbstmord. Sein „Verbrechen“ bestand lediglich in seiner Homosexualität, die im England der 50er noch strafbar war und zu einem Gerichtsverfahren führte, in dem Turing zu einer Hormonbehandlung verurteilt wurde, um seine „Neigungen zu korrigieren“. Erst 2014 wurde Turing von der Queen posthum begnadigt und damit rehabilitiert – eine allzu späte Ehrung eines der klügsten Köpfe des 20. Jahrhunderts, der schon 1927 in Cambridge einen vielbeachteten Artikel verfasste, der die Möglichkeit einer künstlichen Intelligenz skizziert.

Turings frühe Liebe zum Mitschüler Christopher, der 1930 tragisch an einer Vergiftung stirbt, seine Vorliebe für Disneys Schneewittchen, sein marottenhaftes Verhalten (aus heutiger Sicht kein ungewöhnliches Phänomen bei außergewöhnlich begabten Menschen) sowie die schicksalhaften Ereignisse nach Kriegsende blendet Arnaud Delalande („Surcouf“, „Königliches Blut“) in dieser wunderbaren Biographie nicht linear, sondern in assoziativen Rückblenden ein, in denen Szenen aus Turings Kindheit ebenso vorüberziehen wie das schändliche Gerichtsverfahren, während Christopher als mahnender Geist stets im Hintergrund präsent bleibt. Optisch gestaltet Éric Liberge (u.a. „Unter Knochen“, „Die Korsaren der Alkibiades“) das Geschehen ebenso vielseitig, von kleinen Vignetten bis hin zu großformatigen Collagen, die das Kriegsgeschehen oder Turings Gedankenwelt (inkl. der Roboter-Maria aus „Metropolis“ und dem vom fallenden Apfel inspirierten Isaac Newton) wunderbar lebendig machen.

Im spannenden Nachwort erhalten wir dann noch eine kleine Geschichte der Kryptographie von den ersten Geheimschriften bis hin zur monumentalen Colossus-Maschine, die man 1942 in Bletchley Park baute. Hier erfahren wir auch, dass die Engima – schon 1926 von Arthur Scherbius zum Schutz vor Industriespionage erfunden – nur zu entschlüsseln war, weil ein frustrierter deutscher Zivilangestellter die Pläne schon 1931 an die Franzosen verkauft hatte, so dass man während des Kriegs zumindest die grundsätzliche Funktionsweise der Chiffrierung kannte. Ein mehr als faszinierendes Stück Wissenschafts- und Sozialgeschichte, das wie der wunderbare Film „The Imitation Game“ (mit einem wie immer brillanten Benedict Cumberbatch) einem Mann ein Denkmal setzt, der seinem Land und der gesamten Welt einen unschätzbaren Dienst erwies, nur um an der bigotten Moral seiner Zeit zu scheitern. Bei bahoe books erscheint der Band hochwertig aufgemacht als Hardcover. (hb)

Der Fall Alan Turing
Text: Arnaud Delalande
Bilder: Éric Liberge
80 Seiten in Farbe, Hardcover
bahoe books
18 Euro

ISBN: 978-3-903290-44-0

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