Kameraden (Splitter)

September 11, 2017

Wladimir Iljitsch Uljanow, Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, Nikolaus Alexandrowitsch Romanow. Lenin, Stalin und Zar Nikolaus II. Drei bedeutende Gestalten der Geschichte. Und der russischen im Besonderen. Sie alle spielen in „Kameraden“ wichtige Rollen, lenken und beeinflussen sie nicht nur entscheidend das Schicksals Russlands in den unruhigen und turbulenten Zeiten ab 1917, als der erste Weltkrieg noch wütete, sondern auch die Geschicke der beiden Hauptakteure dieses Bandes, der – wie auch sein Vorbild „Doktor Schiwago“ – von einer monumentalen Liebesgeschichte erzählt, die vor dem politischen Hintergrund und wegen Standesunterschieden eigentlich keine Chance haben dürfte. Und die auch deshalb umso intensiver und leidenschaftlicher ist.

Die Liebenden? Wolodja Iwanowitsch, Gardesoldat in der russischen Armee und Ania, seine hübsche rothaarige Freundin. Obwohl Wolodja weder Anias Nachnamen kennt und auch nicht weiß, wo sie wohnt, sind beide schwer verliebt. Anias Geheimniskrämerei hat einen guten Grund. Denn eigentlich heißt die Dame Anastasia Romanowa und ist die jüngste Tochter des Zaren, die heimlich aus dem Palast schlüpft, um ihren Wolodja unerkannt zu treffen. Im Februar 1917 ist die politische Lage in Russland und in der damaligen Hauptstadt Sankt Petersburg/Petrograd angespannt. Der Krieg gegen Deutschland scheint verloren, die Versorgung der Bevölkerung ist schlecht und die Distanz zwischen Herrscherhaus und einfachem Volk war nie größer. Die Folge: Unzufriedenheit macht sich breit und bricht sich Bahn. Die Menschen gehen auf die Straßen, demonstrieren. Die kommunistische Keimzelle der späteren Sowjetunion – bald wird die Oktoberrevolution alles für immer verändern. Hier treffen Wolodja und Ania auf einen führenden Bolschewiki, der gerade aus der Verbannung zurückkam und mit dem sich Wolodja anfreundet. Sein Name: Stalin. Eine folgenschwere Begegnung. Denn was die Liebenden nicht ahnen: Stalin erkennt Anastasia.

Nicht gerade ein angenehmes Wiedersehen…

Nun sind die Weichen für ein ausschweifendes und opulentes Drama gestellt. Die politisch-geschichtlichen Fakten werden (noch) akkurat präsentiert und die Person Wolodjas könnte – wenn überhaupt – nur mehr eine Randnotiz der Geschichte sein. Aber es kommt anders. Auch geschichtlich. Denn nachdem sich Wolodja den Revolutionären anschließt – der Zar hat inzwischen abgedankt – wird ihm eine zuerst unbekannte Aufgabe zugeteilt, welche sich bald dramatisch offenbart: Er soll auf Betreiben Stalins die Hinrichtung der Zarenfamilie mit vollstrecken und steht urplötzlich seiner geliebten Ania/Anastasia gegenüber, die Waffe an ihre Schläfe gerichtet. Eine unmögliche, storytechnisch fein eingefädelte Situation. Eine Zwickmühle mit überraschendem Ausgang, denn zwar fallen Schüsse, aber anders als geplant. Die Cousins des Zaren – King George und Kaiser Wilhelm – haben Geheimdienst-Offiziere geschickt, um die Zarenfamilie zu retten, was in buchstäblich letzter Sekunde gelingt. Während eine abenteuerliche Flucht beginnt, die zu einer gefährlichen Odyssee wird, gilt die Zarenfamilie offiziell dennoch als tot. Denn statt ihr richten die Russen unschuldige Zivilisten hin, verbrennen die Leichen und „deklarierten“ sie als die Romanows.

Der Band fasst – sozusagen als All-In-One Ausgabe – alle drei Einzelalben der Reihe zusammen (Das Ende der Romanows, Tötet sie alle, Das gelobte Land). Glücklicherweise verzichtet die Story auf die bekannte romantisierte und unnötige Anastasia-Legende. Trotzdem wird hier – zumindest vorläufig, aber wir wollen nicht zu viel verraten – die Geschichte umgeschrieben, indem die Autoren in einem verwegenen Schritt gleich die ganze Zarenfamilie überleben lassen. Und mehr noch: ihre Flucht scheint zu gelingen. Man erreicht schließlich Berlin, wo sich eine weitere überraschende Wendung ergibt, die Wolodja und Anastasia zurück Richtung Russland führt. Präsentiert wird diese spannende wie fesselnde Story, die episodisch ständig neue Impulse erfährt, in einem semi-realistischen, unaufdringlichem Strich und einer durchgehend dezenten Farbgebung, bei der pastell-sanfte Grün-, Blau- und Grautöne dominieren, durchzogen von kräftigen Rot-Tupfern für die kommunistische Revolution, für Blut und auch für Anastasias Haar. Persönliche Dramen auf verschiedenen Ebenen. Gesellschaftliche und politische Umwälzungen. Historisch alternative Fingerübungen. Ein weites Land, der klassisch russische Winter. Unvorhergesehene Ereignisse, gute und tragische. Große Gefühle. Und über allem steht eine Liebesgeschichte, die jedem Unbill trotzt. All das vereint der Band, der die Handlung immer wieder ineinander verstrickt und Personen sich ein zweites Mal begegnen lässt. „Doktor Schiwago“ meets „So weit die Füße tragen“. Inklusive Happy End? Nun, lest selbst. (bw)

Kameraden
Text: Bonoît Abtey, Jean-Baptiste Dusséaux
Bilder: Mayalen Goust
168 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
24,80 Euro

ISBN: 978-3-95839-556-5

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