Zwanzig Jahre später: Während Paul, der früher Pavel hieß, noch immer in seinem kleinen Tattoo-Studio arbeitet, wurde aus Azami, seiner Ziehtochter, eine junge Frau. Und was für eine. Sie betreibt leidenschaftlich Bodybuilding und hat als Lieutenant bei der New Yorker Polizei den passenden Job gefunden. Nur eine Sache treibt sie um: Sie kann keine Kinder kriegen. Bei einem Einsatz findet sie ein Baby, das in einer Seitengasse abgelegt wurde. Wider alle Logik und trotz massiver Einwände von Paul behält sie das Kind. Was eine Reihe von fatalen Ereignissen auslösen wird. Gleichzeitig wird Paul einmal mehr von den Geistern seiner Vergangenheit im Gulag heimgesucht, die sich zudem als allzu lebendig erweisen. Und Azami muss um das Baby kämpfen, an dem ein angeblicher Drogenhändler und eine geheime Regierungsbehörde aus verschiedenen Gründen reges Interesse zeigen…
Vor nunmehr über sechs Jahren trafen wir Paul und Azami zum ersten Mal. In „Little Tulip“ schilderten François Boucq und Jerome Charyn die erbarmungslose Kindheit von Paul/Pavel im russischen Gulag im äußersten Osten Russlands. Parallel dazu zeigten sie ihn – die Gegenwart spielte im Jahr 1970 in New York – als fähigen Tätowierer und Phantombildzeichner für die Polizei, mit einer Art zweitem Gesicht. Und wie ihn erstmals seine Vergangenheit schmerzhaft einholte. Es ist für die Lektüre dieses Fortsetzungs-Bandes nicht zwingend notwendig aber dennoch höchst empfehlenswert, die Story von „Little Tulip“ zu kennen und damit die Vorgeschichte von Paul, dessen unerbittliche, harte Zeit im Straflager und seinen „Werdegang“ als Tätowierer und Kämpfer.
Nun also schreiben wir das Jahr 1990. Für Paul ist alles beim alten. Er betreibt sein Studio und kümmert sich noch immer um Azami, für die er längst zur Vaterfigur wurde. Da brechen erneut die Dämme zu seiner Vergangenheit auf, wieder begegnet er Personen aus dem Gulag, an die er denkbar schlechte oder zumindest gemischte Erinnerungen hat (offenbar scheint es im kalten Krieg kein Problem für dubiose Russen gewesen zu sein, in die USA zu emigrieren… man trifft sich in New York). Er sieht sich gezwungen, zum Wohle Azamis einen gefährlichen Handel einzugehen, bei dem das Findelkind als Druckmittel dient. Dabei zeigen Charyn und Boucq ihr New York voller Halbweltgestalten und korrupten Behörden, die skrupellose Geschäfte machen. Die Stadt ist keine schillernde Metropole, sondern dreckig (siehe auch „Teufelsmaul“), bestenfalls schmuddelig, eben genauso verkommen wie die Moral der meisten Antagonisten Pauls. Passend dazu spielen diverse Szenen im Untergrund, in den Katakomben der Stadt.
Pauls ans Übernatürliche angelehnte Gabe kommt in diesem Band nicht zur Sprache – für den für die Werke von Charyn und Boucq typischen Touch Fantasy („Die Frau des Magiers“) sorgt diesmal Mama Paradise, eine der skurrilen Nebencharaktere (neben dem beinlosen Informanten Albatros, dem Drogen- und Menschenhändler Quinto u.a.). Mama Paradise, die Mutter Teresa des Untergrunds, umweht eine mystische Aura, deren Rolle im Fortgang der Story Raum für Interpretationen eröffnet. Der massive Showdown ist dann inhaltlich wie erwartet, dabei etwas dick aufgetragen, optisch aber ganz anders und höchst originell und stellt einen eleganten zeichnerischen Höhepunkt dar, der einmal François Boucqs (u.a. „Bouncer“, „Superdupont“) Können unter Beweis stellt. Und es kann sehr gut sein, dass wir Paul und Azami noch ein weiteres Mal erleben werden. Dann bitte nicht erst in sechs Jahren. (bw)
New York Cannibals
Text: Jerome Charyn
Bilder: François Boucq
152 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
35 Euro
ISBN: 978-3-96219-527-4