New York im Jahr 1970. Der alternde Paul ist Einzelgänger und ein harter Hund. So hat er keine Mühe, eine Jugend-Gang zu vermöbeln, die ihm an den Geldbeutel will. Um zu leben betreibt er ein kleines Tattoo-Studio. Außerdem ist ein gefragter Phantombild-Zeichner bei der Polizei – er scheint die Gabe zu besitzen, sich in die Opfer hineindenken zu können und fertigt dadurch realitätsnahe Portraits der Täter an. Nur ein Fall nagt an ihm: die Mordserie des Bad Santa Killers, aus der er nicht schlau wird und über die er immer wieder nachgrübeln muss. Rückblende: etwa Mitte der Dreissiger Jahre beschließt die Familie des jungen Paul von den USA in die Sowjetunion auszuwandern. Pauls Vater ist Künstler und sein Plan ist es, mit dem berühmten Regisseur Sergej Eisenstein zusammenzuarbeiten, was auch gelingt.
Doch während des Krieges wird die Familie wegen vermeintlicher Spionage festgenommen und in Ostsibirien interniert. Paul, jetzt Pawel, wird von seinen Eltern getrennt und erfährt im Gulag eine grausame Kindheit. Zuerst wird er Spielball einer monströsen Aufseherin, dann wird der lokale Pachan (quasi der Gansterboss), Kiril der Wal (es gibt im Gulag verschiedene Vereinigungen von Kriminellen, die über eine gewisse Macht verfügen und die ihre Zugehörigkeit über Tätowierungen definieren) auf ihn aufmerksam. Denn Pawel besitzt ein einzigartiges Zeichentalent. Schließlich wird er Tätowierer der Verbrecher und dann auch noch knallharter Zweikämpfer. Nach zahlreichen grausamen und unbarmherzigen Episoden – u.a. das Wiedersehen mit seiner Mutter und eine tragische Liebesgeschichte, wird er entlassen und kehrt in die USA zurück. Jahre später – eben 1970 – schließt sich dort der Kreis.
Vom amerikanischen Autor Jerome Charyn, der auch bereits für Loustal schrieb, erschien bei uns zuletzt der Noir-Krimi ‚Marilyn the Wild‘, wobei er seinen eigenen Roman als Comic adaptierte. Seine Zusammenarbeit mit François Boucq hat Tradition. Bereits in den 80ern erschien in zwei Bänden ‚Die Frau des Magiers‘, gefolgt von ‚Teufelsmaul‘ (1991), das demnächst neu aufgelegt wird – ebenfalls bei Splitter. Somit ist Boucq auch schon ein alter Hase (er erhielt 1998 den Grand Prix in Angoulême). So richtig bekannt bei uns wurde Boucq aber durch seinen harten Western ‚Bouncer‘, der von Alejandro Jodorowsky geschrieben wird und immer noch von Band zu Band besser wird (bisher 9 Alben bei Ehapa/Egmont). Auch der ‚XIII Mystery‘ Band über Colonel Amos und die 4-teilige Serie ‚Der Janitor‘ (bei Schreiber & Leser) seien hier genannt. ‚Little Tulip‘ war heuer in Angoulême für das beste Album nominiert (prämiert wurde übrigens die Graphic Novel ‚L’Arabe du Futur‘, die als ‚Der Araber von morgen‘ auch bei uns erhältlich ist).
Die Handlung des Albums passiert auf zwei Zeitebenen, zwischen denen mehrmals hin- und hergesprungen wird – je nachdem wann und an was sich Paul aus seiner Zeit im Gulag erinnert. Seine Kindheit dort in der ostsibirischen Kolyma-Region, die für ihre Straf- und Arbeitslager berüchtigt war, wird in harten wie gnadenlosen Bildern und Episoden geschildert. Als Junge erfährt er keinerlei Liebe oder Gefühle, wird als Sache gehandelt und von Kiril nur wegen seines Zeichentalents protegiert. Dass sich am Ende der Kreis schließt und seine Vergangenheit Paul einholt, dürfen wir hier ruhig verraten, das wird früh klar und ist keine Überraschung. Wie das Finale präsentiert wird, nämlich ganz anders als erwartet, dagegen schon. Zum angesprochenen ‚Teufelsmaul‘ gibt es übrigens diverse Parallelen: eine harte Kindheit bzw. Ausbildung, trotzdem geht die Hauptperson ihren Weg und am Ende kommt eine phantastische Komponente ins Spiel. Überhaupt zieht sich das Grausame, Gefühllose, das Außenseitern widerfährt, durch verschiedene Werke Boucqs, denken wir nur an diverse drastische Szenen aus Bouncer. Auch ‚Mondgesicht‘, das einmal mehr von der wilden SF-Fantasie Jodorowskys geprägt ist, zählt dazu.
Boucqs Zeichnungen sind realistisch, ohne dass er in den Foto-Modus schaltet. Eben klassisch, mit Tusche. Erinnert ‚Bouncer‘ an Girauds Westernklassiker Blueberry (was kein Makel ist – im Gegenteil: an diesem Stil kommt man im franko-belgischen Western-Comic eben nicht vorbei, siehe ‚Undertaker‘ und ‚Apache Junction‘), kommt in seinen übrigen Serien oder Einzelbänden der typische Boucq zum Vorschein, der einen unverwechselbaren Zeichenstil, v.a. was die Gesichter anbelangt, präsentiert. Dazu natürlich die passenden Farben: eine gediegene, aber nuancenreiche Kolorierung (klar, im Gulag ist es eben nicht bunt), die äußerst stimmig ist und aufgrund der Abstufungen innerhalb einer Farbe beinahe etwas Räumliches in die Zeichnungen einbringt. Wie bisher immer werden Freunde anspruchsvoller (ja, und auch heftiger) und doch klassischer franko-belgischer Comic-Kunst von der neuen Zusammenarbeit der beiden nicht enttäuscht. (bw)
Little Tulip
Text: Jerome Charyn
Bilder: François Boucq
88 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-95839-135-2