Bauarbeiten können ein wenig dauern, das erfährt auch der gute Jhen Roque, den sein Mentor Gilles de Rais erneut engagiert, um im heimischen Schloss Tiffauges eine prächtige Kapelle einzurichten. Der ewig prassende Gilles, Marshall und Konnetabel von Frankreich, ist sich zur Geldbeschaffung auch für Raubzüge nicht zu schade, was ihm Jhen mehr als einmal explizit vorwirft. Als Gilles nach Machecoul abreist, besucht Jhen eine nahegelenge Siedlung von Bauern, denen er bei der Befestigung ihres Dorfs gegen die dauernden Angriffe von Wegelagerern und Raubrittern hilft. Bald stellt sich allerdings heraus, dass Gilles auch seinen anderen abseitigen Neigungen unverhohlen weiter frönt: permanent verschwinden Kinder, so auch aus einem kleinen Trupp von vagabundierenden Waisen, die Schutz im Dorf suchen. Gemeinsam mit der burschikosen Martha macht sich Jhen auf, den ominösen Fremden zu treffen, der unter dem Namen „Blaubart“ in den Dörfern regelmäßig Geld für Knaben bietet, die angeblich in den Pagendienst treten, aber nie mehr gesehen werden. Als die Reisegruppe in einem Gasthaus gerade noch eine weitere Entführung verhindern kann, ist für Jhen klar, dass er Gilles zur Rede stellen muss. Da kommt ihm ein Trupp fahrender Gaukler gerade recht: mit einer Theateraufführung am Hofe von Tiffauges hält Jhen dem „schwarzen Wolf“ Gilles den Spiegel vors Gesicht, der ihn prompt einkerkern lässt. Martha und dem tatkräftigen Bengel Hugo gelingt Jhens Befreiung, aber Gilles verfolgt seinen Freund bis zurück ins befestige Dorf und fordert ihn dort zum entscheidenden Duell heraus…
Entfremdet von Gilles de Rais, macht sich der Baumeister Jhen mit seinem Freund Parfait Létoile auf nach Straßburg, um dort die Turmspitze des gewaltigen Münsters zu vollenden. Unterwegs macht man Halt bei der Burg des Grafen Rathsamhausen, mit dem die beiden Besucher aneinandergeraten, als der Falke des Burgherrn zu Tode kommt. Parfait will durch seine Dienste Abbitte leisten, worauf Jhen alleine nach Straßburg weiterreist. Dort scheint das Unheil über dem Bauprojekt des Bischofs Wilhelm von Straßburg zu hängen: ein mysteriöser Fremder, der sich das „Schwarze Gespenst“ nennt, sabotiert die Arbeiten, wo er kann. Während Jhen versucht, der Sache auf den Grund zu gehen, sieht sich Parfait in die Feindschaft der Familien Rathsamhausen und Lützelburger hineingezogen, die die Liebe der beiden Sprößlinge Markus und Klara nicht duldet. In abenteuerlichen Jagden durch unterirdische Gänge und Geheimtüren löst Jhen schließlich das Geheimnis des „Schwarzen Gespensts“: Hieronimus, so der bürgerliche Name, stammt ebenfalls aus der Familie Lützelburger und will verhindern, dass der Bischof das Lehen seiner Familie an den deutschen Kaiser verschachert, um seine eigene Machtposition zu sichern. Die einzige Chance, dies zu verhindern, besteht in einem Pakt der beiden Häuser, und es fällt Jhen und Parfait zu, dieses Ding der Unmöglichkeit einzufädeln…
In Straßburg sammelt Eustache Blanchet, Kompagnon und Alchemist von Gilles de Rais, Jhen wieder ein und überzeugt ihn davon, dass Gilles ihn dringend braucht. Der Konnetabel will nämlich in Orléans ein spektakuläres Mysterienspiel über Leben und Tod der Johanna inszenieren, deren Wirken er selbst entscheidend mit prägte. Jhen willigt ein, sowohl die Konstruktion der Bühne als auch der Dekors zu übernehmen, hält aber weiterhin nicht mit seiner Kritik an Gilles‘ finsterem Lebenswandel zurück. Was Jhen nicht weiß: der Konnetabel hat sich längst auch außerhalb der Stadtmauern ein Häuschen gesichert, wo er des Nachts seinen widerwärtigen Mordexzessen frönt. Um die enormen Geldmittel für das Schauspiel zu organisieren, zieht Gilles gegen stattliche Bezahlung mit seinem verhassten Cousin für König Karl in den Krieg – und beginnt damit, seine Ländereien zu Spottpreisen verschleudern zu lassen, während er auch beim Feldzug nicht von seinen Kindermorden lassen kann. Das lässt sich die Bevölkerung allerdings nicht ohne Widerstand bieten und rückt dem finsteren Gast per Feuer zu Leibe, dem Gilles nur um Haaresbreite entgeht. Bei der Aufführung des Mysterienspiels, dem auch König Karl und der Dauphin (der designierte Thronfolger, von dem Karl nicht viel wissen will), kommt es schließlich zur Katastrophe, als der Dauphin ein übles Ränkespiel gegen Gilles entspinnt…
In den drei hier versammelten Episoden um den Baumeister Jhen Roque, die im Original 1984, 1985 und 1986 bei Casterman und anschließend im Reiner Feest Verlag auch hierzulande erschienen, richten Jacques Martin und sein Zeichner Jean Pleyers den Fokus wieder auf die Zeit des 100-jährigen Krieges, in der sich historische Hintergründe (die Feldzüge König Karls, der Lehenskonflikt einzelner Adelsfamilien, vor allem aber auch der Bau des Straßburger Münsters) und fiktive Handlungselemente filigran vermischen. Stand in den ersten Episoden noch die Figur der Jeanne d’Arc und ihre Nachwirkung im Mittelpunkt, rückt nun zumindest in den Folgen „Blaubart“ und „Die Lilie und der Unhold“ die mehr als zwielichtige Gestalt des historisch verbürgten Gilles de Rais noch mehr in den Vordergrund. Dessen perverse Neigungen, die in den ersten Geschichten eher im Hintergrund blieben, rücken hier deutlich ins Zentrum, wobei Jhen als sein schlechtes Gewissen fungiert, der ihn immer wieder mit der düsteren Wahrheit konfrontiert. Gilles erscheint dabei als astreiner Psychopath, der nach seinen eigenen Worten „nicht anders kann“, als seine pechschwarzen Gelüste zu befriedigen, wobei durchaus offen bleibt, ob dies nicht einfach eine bequeme Erklärung ist (und was durch manch grausame Szene konterkariert wird, etwa in den mit Kinderskeletten vollen Burgfrieden oder dem Aufbewahren eines besonders hübschen Knabenkopfes).
Als erzähltechnischen Kniff greift Martin dabei wiederholt auf einen der Besten des dramatischen Fachs zurück: Jhens Idee, dem Missetäter seine Verbrechen als Bühnenstück vorzuführen und ihn so zu entlarven, entwickelte schon ein gewisser Prinz von Dänemark: „The play’s the thing, wherein I’ll catch the conscience of the king!“, so formuliert Shakespeares Hamlet seinen Plan, den mörderischen Onkel zu überführen (was auch im Weltraum bestens funktioniert, immerhin legte Captain Kirk 1966 in der Episode „Conscience of the King“ einem Massenmörder in gleicher Manier das Handwerk). Aus der verbotenen Liebe der beiden Kinder der verfeindeten Familien Rathsamhausen und Lützelburger grüßt natürlich „Romeo und Julia“ herüber, aber auch die modernere Literatur kommt zu Ehren: die stimmungsvollen Szenen, in den das „Schwarze Gespenst“ per Floss über den unterirdischen See unter dem Straßburger Münster gleitet, scheinen direkt aus dem „Phantom der Oper“ von Gaston Leroux entlehnt, wobei die Figur des Artisten Hieronimus selbst als eine Art mittelalterlicher Robin angelegt ist.
Vor allem die Episode um das Straßburger Münster wirkt dramaturgisch wie ein Serial, mit atemlosen Cliffhangern, neuen Figuren auf fast jeder Seite und jeder Menge Action, die Hansrudi Wäschers Sigurd zur Ehre gereichen würde. Inszenatorisch punkten auch diese Abenteuer wieder durch einen unglaubliche Detailreichtum, der sich in Figuren, Bauten (über die akribische Darstellung des im Bau befindlichen Münsters kann man nur staunen) sowie Ausrüstung, Flaggen und Waffen niederschlägt und bis in Referenzen wie den weithin bekannten Kran im Hafen von Straßburg mündet. Diese Hintergründe entfaltet Martin dann im auch hier beigefügten Band „Straßburg“, der 2007 als Ausgabe 6 der Reihe „Les voyages de Jhen“ herauskam, unter tatkräftiger Mithilfe des Stadtchronisten Georges Foessel, in einem bunt illustrierten geschichtlichen Reigen. Bei Kult erscheint auch dieser Integral wieder in mächtiger Hardcover-Form, auf insgesamt 212 Seiten mit einem ausführlichen Editorial sowie großformatigen Illustrationen, Skizzen, Coverentwürfen, Fotos und – nicht zu vergessen – schmuckem Lesebändchen. Wem das alles noch nicht genug ist, der greift zur auf 99 Exemplare limitierten Vorzugsausgabe mit einem Exlibris. Integral 3 soll noch im Juli folgen. (hb)
Jhen, Integral Band 2
Text: Jacques Martin
Bilder: Jean Pleyers
216 Seiten in Farbe, Hardcover
Kult Comics
35 Euro
ISBN: 978-3-96430-103-1