Winsor McCays „Little Nemo in Slumberland“ gehört zu den frühesten und gleichzeitig prägendsten Klassikern der Neunten Kunst. Der 1871 geborene McCay zeichnete seine berühmteste Serie als One-Pager, die in Form von Sonntagsseiten von 1905 bis 1913 und dann erneut von 1924 bis 1927 wöchentlich veröffentlicht wurden. Das Muster blieb dabei stets gleich: In einer grenzenlosen, opulenten, wie auch gerne chaotischen Traum-Welt erlebt der Junge namens Nemo fantastische Abenteuer, die immer damit enden, dass Nemo im letzten Panel aus dem Bett fällt und aufwacht. In seinen Träumen sind der Phantasie keine Schranken gesetzt, weder für Nemo noch für seinen Schöpfer. Betten wachsen Beine, die über Hochhäuser hinweg steigen, Proportionen und Naturgesetze gelten nicht mehr bzw. sind bar jeglicher Logik. Riesige Tiere – gerne Elefanten – bevölkern die Seiten. Alles ist möglich, ehe die Realität Nemo wieder einholt, indem sie ihn aufwachen lässt.
Die besten und vollständigsten Deutschen Veröffentlichungen stammen ebenfalls aus dem Carlsen Verlag (6 überformatige Bände von 1989 bis 1994, allerdings nur bis 1914), sowie aktuell in Form einer mächtigen, zweibändigen Gesamtausgabe bei Taschen. Weit zahlreicher sind die Hommagen, Variationen und an das Original angelehnte Titel und Serien. Aus dem franko-belgischen Comic-Kultur-Raum seien Herrmanns „Die Träume des kleinen Robin“, „Little Ego“ von Vittorio Giardino oder „Die Träume des Little Nemo“ von Moebius und Bruno Marchand genannt. Jetzt nimmt sich der Belgier Frank Pé der Figur an, der seit seinen Reihen „Jonas Valentin“ und „Zoo“ (Manon aus der Serie sieht Nemo auch durchaus ähnlich) sehr geschätzt wird. In seinem schlicht „Little Nemo“ benannten Hommage-Band variiert er die Figur und das Format in One-Pagern, die sich mit zweiseitigen Strips abwechseln, unterbrochen von großformatigen Illustrationen, welche sich auch über mehrere Seiten erstrecken können.
Dabei lässt der Belgier moderne Elemente einfließen (Nemo hört Supertramp, ein Handy ist abgebildet) und greift aktuelle Themen auf (verdreckte Ozeane). Auch das Aufwachen seines Hauptakteurs variiert er und sprengt schließlich endgültig die Gepflogenheiten der Serie, indem er Winsor McCay höchst selbst einige Episoden bestreiten lässt, dann sinnig beispielsweise als „Litte Winsor in Happyland“ betitelt (an dem Elefanten, der im ersten Little Winsor Strip über das Eis rutscht, kann man sich nicht genug sattsehen). Überhaupt: Frank Pé zeichnet bekanntlich gerne Tiere (siehe sein Zoo-Dreiteiler) und so bevölkern diese – auch variiert als Fabelwesen – die Seiten, wohingegen architektonisch aufwändig konstruierte Fantasiepaläste oder Hochhäuser, wie man sie aus dem Original kennt, außen vor bleiben.
Teilweise sind die Episoden durch einen dünnen roten Faden verbunden. So sucht Nemo einige Seiten lang seinen Freund Flip, später findet man sich in einer Art Bücherwelt wieder, die man durchstreift. So richtig tiefgründig wird es in den Strips freilich kaum. Sie fungieren und funktionieren durch und durch als surreale Traumgebilde, entstanden durch die überbordende Fantasie Frank Pés der damit dann doch eine Schnittmenge seiner Hommage (inkl. eines Auftritts von Gertie dem Dinosaurier) mit dem Original erschafft. Bei Carlsen erscheint der Band im angemessenen Überformat, das den wunderbaren Zeichenstil entsprechend zur Geltung bringt. Frank Pés aktuelles Projekt beschäftigt sich auch mit einem besonderen Tier: in „Die Bestie“, einem realistisch gezeichneten Einzelband, der bei Carlsen Mitte des Jahres erscheinen wird, schildert er nach einem Script von Autor Zidrou, wie erstmals ein Marsupilami seinen Weg nach Europa findet. (bw)
Little Nemo
Text & Bilder: Frank Pé
80 Seiten, Hardcover
Carlsen Verlag
35 Euro
ISBN: 978-3-551-79348-5