Archangel (Cross Cult)

Oktober 22, 2017

Februar 2016. Die Welt wie wir sie kennen, ist Geschichte. Zerstört, verwüstet und verstrahlt durch einen Atomkrieg, der offiziell versehentlich ausgelöst wurde, an dem aber der US-Präsident auf Lebenszeit Henderson einen gehörigen Anteil hatte. In Snake Mountain im US Bundesstaat Montana soll nun ein Neuanfang gemacht werden. Dort steht die Quantum-Transfereinrichtung, ein Art Zeitmaschine, auch Splitter genannt, mit der man zurückgereist in die Vergangenheit neue Zeitlinien schaffen, bzw. eröffnen kann, in denen dann die Fehler der gegenwärtigen Vergangenheit vermieden werden sollen. Genau das will der Vizepräsident Henderson jr. nun tun und reist daher in der Zeit zurück zum Februar 1945. Doch nicht alle in Snake Mountain unterstützen dieses Vorhaben. Eine kleine Gruppe Rebellen, zu der auch die an den Rollstuhl gefesselte Technikerin Torres gehört, versucht zu verhindern, dass die skrupellosen Hendersons auch noch anderen Zeitlinien korrumpieren, kapert die Einrichtung samt Splitter und sendet selbst zwei Marines nach 1945, um Henderson jr. aufzuhalten.

Die Story startet in der trostlosen Gegenwart in Snake Mountain, verlagert sich dann aber vordergründig ins Jahr 1945 nach Berlin, kurz nach dem Ende des Dritten Reiches, aber noch vor Hiroshima und Nagasaki. Hier arbeitet die Offizierin Naomi Givens für den britischen Geheimdienst. Die stößt auf die Marines von 2016, die bei ihrer Teleportation eine Bruchlandung hinlegten, wobei einer von ihnen starb. Der überlebende wird nun zum Objekt der Begierde für die Geheimdienste der Besatzungsmächte Berlins. Auch Henderson jr. macht Jagd auf ihn. Und jetzt werden auch dessen Pläne und die Form der Abspaltung der Zeitlinie klar: die zweite Atombombe der Amerikaner soll nicht auf Nagasaki fallen, sondern auf das russische Archangelsk. Dort liegt nicht nur ein großer Teil der russischen Flotte vor Anker, auch Stalin hält sich gerade dort auf. Dessen Tod und die Vernichtung der Flotte soll die dauerhafte Vorherrschaft der USA sichern (Pax Americana) und den Weg für eine erneute Herrschaft der Hendersons ebnen.

Die fünfteilige Miniserie, „Archangel“, die in diesem Band abgeschlossen vorliegt, markiert den Einstieg des gefeierten Science Fiction Autoren William Gibson (Jahrgang 1948) ins Comic-Geschäft. Gibson, dem wir die Begriffe „Cyberspace“ und „Cyberpunk“ zu verdanken haben, prägte in den achtziger Jahren mit Romanen wie „Neuromancer“, „Count Zero“ und „Mona Lisa Overdrive“ das SF-Genre nachhaltig. Für sein Debut als Comic-Autor (gemeinsam mit Michael St. John Smith) wählte er das ewig junge SF-Motiv der Zeitreise. Im Gegensatz zu anderen Vertretern dieses Themas, wo in der Vergangenheit keine Eingriffe gemacht werden dürfen, damit die Zukunft unverändert bleibt (Stichwort Zeitparadoxon), sind einschneidende Änderungen hier voll beabsichtigt. Zwar will man die katastrophalen Fehler der Gegenwart wieder gut machen, die uneingeschränkte Macht und Herrschaft der beiden Hendersons soll dabei aber gewährleistet sein. Kein Wunder, dass der Widerstand das verhindern will. Und am Ende, wieder in Berlin, gibt es nach dem Finale einen schönen Storytwist.

Auch wenn das dystopische SF-Setting, gepaart mit dem Nachkriegs-Geheimdienst-Szenario etwas holprig erscheint, erweist sich der Zeitpunkt der Abspaltung der Zeitlinie und damit die Schaffung einer neuen Realität mit dem geplanten Bombenabwurf auf Archangelsk (Archangel!) als schlüssig. Die Qualität der Zeichnungen in dem Band schwankt teilweise recht stark. Auf manchen Seiten kommen die Charaktere arg grob geschnitten und ungelenk daher (für die Optik des Nachtclubbesitzers stand offenbar Peter Lorre aus „Mad Love“ Pate). Ein durchgängiger Zeichner für alle fünf Episoden wäre hier die bessere Alternative gewesen. Insgesamt bietet der Band, der mit William Gibson einen zugkräftigen Namen aufwartet, bestes Lese-Futter für alle Genrefans. Abbildung der Original-Cover, einige Skizzenseiten mit Charakterstudien und ein Nachwort Gibsons runden den Band ab. (bw)

Archangel
Text: William Gibson, Michael St. John Smith
Bilder: Butch Guice, Alejandro Barrionuevo, Wagner Reis
128 Seiten in Farbe, Hardcover
Cross Cult
22 Euro

ISBN 978-3-95981-414-0

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