Virtual Reality! In anderen Worten die Illusion, direkt in die digitale Welt einzutauchen, das ist seit einiger Zeit das Zauberwort – aber dass das Ganze so weit geht, das hätte sich Charlotte de la Cruz dann doch nicht vorgestellt. Die passionierte Online-Zockerin findet nämlich eines Abends in ihrem Apartment zwei Gestalten vor, die sich als Xavier Chen und Galina Vorionia vorstellen und behaupten, Vertreter der Bruderschaft zu sein – jener Gemeinschaft, die das Erbe der Assassinen pflegen und gegen die lumpenhaften Templer verteidigen. Die greifen dann auch an und werden von Xavier und Galina nach allen Regeln der Kunst plattgemacht. Spätestens das überzeugt Charlotte, den beiden ins Hauptquartier zu folgen, wo man ihr Erstaunliches eröffnet. Die Helix-Konsole, mit der sie ihre Ausflüge in die Gaming-Welt unternimmt, ist in Wahrheit ein Portal in die Vergangenheit, in Erinnerungen, die in ihr angelegt sind – und mit der die Templer versuchen, machtvolle Artefakte zu orten. Da will ihnen die Bruderschaft natürlich zuvorkommen – man überzeugt Charlotte, sich mit Hilfe eines spaßigen Gerätes namens Animus wirklich in ihre eigene Vergangenheit zu begeben, wo ein Bruder namens Joseph angeblich diverse Templer in eine Falle zu locken gedenkt. Der Haken an der Sache: die Reise führt schnurstraks ins Jahr 1692 – nach Salem zur Hochphase der Hexenprozesse.
Aber damit nicht genug: Charlotte muss erkennen, dass ihre frühere Inkarnation erstens ein Mann namens Tom Stoddard und zweitens ein ziemlicher Idiot ist. Stoddard geht nämlich durchaus ruchlos gegen seine Kontrahenten und auch Verbündeten vor: auf der Suche nach dem Artefakt, den er als Edensplitter bezeichnet, setzt er sich gemeinsam mit der ihm zugewiesenen Kampfgefährtin Jennifer Querry (die offenbar die Vorfahrin von Joseph ist) auf die Fährte von Dorothy, die angeblich mehr über das Artefakt weiß. Dorothy schmort in den Kerkern, die der oberste Hexenjäger Reverend Samuel Parris mit eifriger Unterstützung des Richters William Stoughton mit armen Seelen füllt. Tom und Jennifer dringen in die Gewölbe ein, befreien Dorothy und nehmen dabei den stummen kleinen David gleich mit. Auf der Flucht vor Parris, Stoughton und seinen Schergen schreckt Stoddard nicht davor zurück, den kleinen David zurückzulassen, den er bestenfalls als Ballast sieht – und dennoch landet man alsbald in den Folterkellern der Hexenjäger. Dort allerdings stellt sich heraus, dass das gesuchte Heiligtum in keinster Weise ein Objekt, sondern vielmehr die offenbar übernatürlich begabte Dorothy selbst ist…
Computerspiele auch als Comic das Licht der Welt erblicken zu lassen, das hat gute Tradition, immerhin tummeln sich schon illustre Figuren wie Lara Croft und auch ganze Game-Franchises wie Halo, Doom oder Resident Evil auf den bunten Seiten. Die Zocker-Reihe Assassin’s Creed, mit der uns der Entwickler Ubisoft seit 2007 in mittlerweile mehr als zehn Varianten beglückt, macht da keine Ausnahme: neben nicht weniger als sechs Romanfassungen (deutsch bei Panini) entstanden bald Comic-Ableger, die von Vielschreiberling Eric Corbeyran abgefasst 2011 in Form von drei Alben auch auf die deutsche Leserschaft losgelassen wurden (ebenfalls im Splitter-Verlag). Auch die jetzt vorgelegte neue Comicserie setzt dabei auf die Hauptprämisse des Spiels auf: dabei reist ein Protagonist mit Hilfe des Systems Animus in die genetischen Erinnerungen eines Vorfahren und kommt dabei in die Fänge der bösen Templer, die auf der Suche nach dem Edensplitter sind, mit dem man die Weltherrschaft an sich reißen möchte. Die Vorfahren gehören dabei den Assassinen an, die bei aller Ruppigkeit einige Grundregeln zu beachten haben (Unschuldige sind zu verschonen, die eigene Tarnung muss aufrechterhalten bleiben, die Bruderschaft darf nicht gefährdet werden).
Aus diesem doch recht engen Korsett ergibt sich für eine Comic-Adaption natürlich ein gewisses Dilemma: im Spieleuniversum bietet die Handlung natürlich nur den Aufhänger für die spektakulären Action-Sequenzen, in denen der Gamer seinen Assassinen raushauen und vor allem an allen möglichen Gegenständen hoch-, herunter- oder entlang hangeln muss. Diese genauen, aber doch eher spärlichen Rahmenbedingungen begrenzen somit die Variationsbreite, in der sich die Comicfassung bewegen kann, was Anthony del Col und Conor McCreery allerdings geschickt umschiffen: zum einen durch den Schachzug, dass die frühere Inkarnation der Heldin ein charakterlich durchaus fragwürdiger Mann ist, zum anderen durch das permanente Durchbrechen der historischen Illusion durch die Gegenwartsebene, in der Charlotte immer wieder aus ihrer Reise herausgerissen wird. Ganz im Geiste der Vorlage steht dabei das bewusste Ausspielen der historischen Hintergründe, die ebenfalls ein Charakteristikum der Spiele darstellen – so etwa rückte die erste Ausgabe ja akkurat Personen und Schauplätze aus der Zeit der Kreuzzüge 1191 ins Zentrum.
Del Col und McCreery schlagen in die gleiche Kerbe und nutzen nicht nur den notorischen Schauplatz Salem, sondern mit Reverend Parris und Richters Stoughton ebenfalls historische verbürgte Personen, die die kleine puritanische Stadt ab Juni 1692 mit ihren Schauprozessen in Atem hielten, was in einem ausführlichen Anhang zur vorliegenden Ausgabe ausgebreitet wird. Auch zeichnerisch bewegt sich die Inszenierung durch Neil Edwards häufig im Fahrwasser der Vorlage, die neben der stets betonten historischen Genauigkeit ja in erster Linie durch halsbrecherische Sprünge und phantasievollen Waffeneinsatz optische Glanzlichter setzt. Für alle Gamer ein Tipp – und für Nicht-Konsolen-Freunde ebenso, denn immerhin kann man sich so ein Bild davon machen, was genau uns mit dem Kinofilm erwartet, der mit Magneto himself Michael Fassbender in der Hauptrolle noch im Dezember in die Kinos kommen soll. Der vorliegende, schöne Band beinhaltet die US-Ausgaben Assassin’s Creed: Trial by Fire 1-5 mit einer Cover-Galerie sowie dem erwähnten Anhang zum historischen Hintergrund. Als Edel-Aufgabe bietet Splitter noch eine limitierte Variant-Edition mit einem 32-seitigen Bonusteil. (hb)
Asassin’s Creed, Band 1: Feuerprobe
Text: Anthony del Col, Conor McCreery
Bilder: Neil Edwards
144 Seiten in Farbe, Hardcover (reguläre Edition)
176 Seiten in Farbe, Hardcover (limitierte Edition)
Splitter Verlag
19,80 Euro (reguläre Edition)
34,60 Euro (limitierte Edition)
ISBN: 978-3-95839-416-2 (reguläre Edition)
ISBN: 978-3-95839-417-9 (limitierte Edition)