Keine Zeit! Kommissars Tigran Vercorian ist im Paris des Jahres 1950 vollauf beschäftigt, den meist gesuchten Kriminellen „René die Krücke“ zu schnappen. Da kommt sein Freund Krikor mit seinem Anliegen höchst ungelegen. Denn Krikor bittet Tigran, ihn bei der Suche nach „Kleiner Maikäfer“ zu helfen. „Kleiner Maikäfer“ heißt eigentlich Annette Scarabéo und war im Krieg eine der furchtlosen Front-Sanitäterinnen. Seit ihr Krankenwagen 1945 von Kugeln durchlöchert gefunden wurde, ist die Dame verschwunden. Krikor hat einflussreiche Freunde. Die heißen Jean Gabin und Jean Marais, sind große Kinostars und drängen als Ex-Soldaten ebenfalls auf eine Untersuchung. Also gibt Tigran den Vermissten-Fall an seinen Sohn Atom, der die Detektei Atom Agency gemeinsam mit Mimi und dem ehemaligen Catcher Jojo „der Kreisel“ führt. Tatsächlich können Atom und sein Team ermitteln, dass „Kleiner Maikäfer“ von den Deutschen gefasst und in das KZ Ravensbrück nördlich von Berlin verschleppt wurde. Dort verlor sie bei einer Explosion den Verstand – seitdem fehlt von ihr jede Spur…
Auch der zweite Band der Reihe bedient sich wieder des bewährten Kniffs, fiktive Ereignisse mit historischen Begebenheiten oder Personen zu mischen. War im Erstling der Juwelenraub der Begum das Thema, haben nun im zweiten Fall der Atom Agency die beiden französischen Film-Ikonen Jean Gabin („Hafen im Nebel“, „Bestie Mensch“) und Jean Marais („Es war einmal“, „Fantomas“) nicht ganz unwichtige Auftritte. Beide dienten tatsächlich im Krieg in der gleichen Division unter dem gleichen General und selbst Marais‘ damaliger Hund Moulouk ist mit von der Partie. Es könnte also gut und gerne sein, dass beide Schauspieler eine Sanitäterin gekannt haben… Aber nicht nur geschichtliche Tatsachen verdichten die ohnehin äußerst opulente Handlung. Auch die armenische Herkunft der beiden Vercorians wird wieder thematisiert – deren Großfamilie spielt wieder eine Rolle, was gerne mit einem augenzwinkernden Humor serviert wird.
Die Story um die verschwundene Sanitäterin „Kleiner Maikäfer“ lässt Autor Yann (u.a. Pin-up, Marsupilami, Helden ohne Skrupel) von diversen anderen Episoden und Geschichten begleiten. Zum einen wird eine neue Entwicklung angeteasert, die wahrscheinlich in Band 3 zum Tragen kommt und in die Vater Vercorian, sowie der zwielichtige Paolo Leca, den wir bereits aus Band 1 kennen, involviert sind. Und die mit deren gemeinsamer Vergangenheit in der Résistance zu tun hat. Zum anderen – neben dem wunderbar inszenierten armenischen Familienfest – ist da die Jagd von Vater Vercorian auf „René die Krücke“, die die eigentliche Story gewissermaßen einrahmt. Dazu gesellen sich noch diverse Kriegsrückblenden mit Marais und Krikor und eben „Kleiner Maikäfer“. Es wird also handlungstechnisch viel geboten und viel erzählt. Dennoch wirkt die Story an keiner einzigen Stelle überlastet. Alles ist überlegt strukturiert und fügt sich in ein wunderbares erzählerisches Gesamtbild.
Stichwort Gesamtbild: Zeichner Olivier Schwartz, der mit Yann bereits drei Spirou Spezial-Bände, sowie den Einzelband „Gringos Locos“ inszeniert hat, beeindruckt einmal mehr mit seinem Semi-Funny-Stil, der einerseits die Dupuis/Marcinelle Tradition pflegt, der auf der anderen Seite auch einen modernen Anstrich beweist. Und der dabei in vielen Details des Zeitkolorits schwelgt. Auf den zeitgenössischen Straßenansichten pulsiert das Leben. Man amüsiert sich in Bistros und Bars im Stadtteil Pigalle, wo im überbordenden Nachtleben Gestalten aller Couleur unterwegs sind (inklusive Maurice Tillieux‘ Jeff Jordan – siehe Panel rechts, ganz unten). Es gibt stets viel zu sehen und zu betrachten, seien es die mitunter kurios-amüsanten Gestalten auf den beiden Familienfeiern, das nervöse Chaos auf dem Polizeirevier oder die beschwingte Rauferei im Obdachlosenviertel. Insofern kann Band 2 den Erstling sogar noch toppen. Optisch, wie auch erzählerisch. (bw)
Atom Agency, Band 2: Kleiner Maikäfer
Text: Yann
Bilder: Olivier Schwartz
56 Seiten in Farbe, Softcover
Carlsen Verlag
12 Euro
ISBN: 978-3-551-75646-6