Heimkehren muss nicht immer uneingeschränkt freudig sein, vor allem, wenn die Reise zu einem exotischen Ort führte. Das merkt der Ex-Astronaut Frank White am eigenen Leibe, der nach seiner Rückkehr vom Mond nie mehr so richtig ins schnöde Erdenleben fand. Er hat sich zwar als wissenschaftlicher Berater der Kristal Corporation angeschlossen, die Kleinstroboter herstellt, aber als ein wichtiger Deal mit japanischen Investoren ansteht, ist Frank spurlos verschwunden – und das Geschäft droht zu platzen. Unternehmenslenker Sullivan sieht sich genötigt, eine Privatdetektei zu bemühen, die ihm eine hübsche junge Dame namens Caroline Baldwin schickt. In der verlassenen Wohnung des Ex-Mondfliegers entdeckt Caroline, die gerne mal einen trinkt, es mit den Männern eher seriell nimmt und auch sonst nicht gerade zimperlich ist, gut versteckt einen Safe. Nachdem Unbekannte das Haus Whites in Luft sprengen, gelingt es Caroline durch einen Trick, den Inhalt – das Tagebuch Whites – in die Finger zu bekommen, aus dem sich dann die ganze tragische Geschichte erschließt. Während Frank seinerzeit das Astronautentraining durchlief, kam seine Verlobte Maria bei einem Verkehrsunfall nahe Venedig ums Leben, und Frank bat einen Teilnehmer der Mission vor ihm, den Verlobungsring auf dem Mond zu platzieren. Als Frank bei seinem eigenen Mondspaziergang Monate den später den Ring nicht finden kann, verfällt er in eine tiefe Depression, auf die es für ihn nach einiger Zeit auf der Erde nur noch einen Ausweg gibt („Moon River“)…
Caroline besucht immer wieder gerne ihren Großvater: im Indianer-Reservat leitet der Hurone eine Motel-Kette und verdient sich mit Ausstellungen für Touristen ein paar Kröten dazu. Caroline, selbst stolze Vertreterin ihres Stammes, findet das nur begrenzt gut, aber liebt den alten Mann dennoch über alles. Als der Großvater stirbt, kommt auch Mike Ford zur Trauerfeier, der seit Kindesbeinen an den Rollstuhl gefesselt im Waisenhaus aufwuchs und seine Ferien immer im Reservat verbrachte. Um für sich selbst Frieden zu finden, will Mike nun herausfinden, welcher geheimnisvolle Gönner jahrelang für alle Kosten seiner Unterbringung und später auch Ausbildung aufkam – und für einen solchen Auftrag ist Caroline natürlich genau die richtige Frau. Im Waisenhaus stößt sie auf eine Mauer des Schweigens, aber im Krankenhaus, in dem Mike zur Welt kam, findet sie den Namen des Arztes, der die Geburt damals betreute. Aber bevor sie Doc Brown zur Rede stellen kann, stirbt der bei einem Anschlag, dem Caroline selbst nur knapp entgeht.
Der FBI-Agent Gary Scott wird auf die Zeugin angesetzt, aber als auch das CIA Interesse zeigt, soll sich Scott zurückhalten, verhindert aber gerade noch einen Mordversuch, der gegen Caroline gerichtet ist. Bei einem weiteren ehemaligen Arzt erfährt Caroline, dass man seinerzeit dem Narkosearzt Jim Travis die Schuld am Tod der Mutter Mikes gab, der ihr dann eine schockierende Geschichte erzählt: keinesfalls seine Narkose habe den Tod verursacht, sondern eine hohe Dosis radioaktives Plutonium und Strontium, das auch für die Missbildungen verantwortlich ist, an denen Mike leidet. Travis berichtet ihr auch, dass es der Oberarzt H.J. Keitel war, der jahrelang im Stillen für Mike aufkam – quasi als Wiedergutmachung für seine Beteiligung an einem geheimen Forschungsprojekt, in dem nichtsahnende Patienten als Versuchskaninchen für radioaktive Verseuchung herhalten mussten. Keitel hat sich mittlerweile in die Schweiz abgesetzt, wo er seinen Gewissensbissen entkommen will – aber Caroline und auch andere, mordgewillte Widersacher machen ihn ausfindig („Kontrakt 48-A“)…
Irgendwo in den Südstaaten: ein wilder Mob unter Führung des zwielichtigen „Colonel Norton“ überfällt eine Tankstelle und verbrennt alle Magazine mit anrüchigem Inhalt: die „Liga wider die Unmoral“ hat wieder einmal zugeschlagen. Weit weg davon am Strand von Coney Island wird die Leiche einer jungen Frau aus dem Wasser gefischt. Polizeichef Philips zieht Caroline zu Rate, da die Tote die Adresse der Detektivin in der Tasche trug. Auf dem Heimweg wird Caroline von einem abgehalfterten Typen angehauen, der ihr eröffnet, dass er die Tote vom Strand kennt und sie bittet, die Täter zu finden. Als Caroline mit Andie, bei der sie zeitweise wohnt, nach Hause kommt, sieht sie diese Gestalt gleich wieder – und zwar als skalpierte Leiche im Pool treibend. Man identifiziert den Toten als Tim Allen, in dessen nahegelegener Wohnung Caroline und Philips Spuren einer gründlichen Durchsuchung und Verwüstung finden. Der Missetäter ist noch vor Ort und rettet sich mit einem waghalsigen Sprung, aber die beiden Ermittler erhaschen einen Blick auf sein Gesicht. In der Wohnung selbst entdeckt man schließlich diverse „pikante“ Fotos sowie die Manuskripte zu erotischen Schundromanen, die die Fotos als Cover zierten. Als Caroline die Zettelsammlungen genauer anschaut, erkennt sie darin das Werk einer ganz anderen Autorin: offenbar lieferte Tim Allen der gefeierten Natasha Hyman ihre Romane als Ghostwriter zu, die ihrerseits zu verhindern wusste, dass Allens eigene Bücher veröffentlicht wurden.
Allen holte sich seine Inspirationen offenbar hauptsächlich aus Kuba, von wo er auch diverse Oldtimer ins Land schmuggelte. Caroline konfrontiert die Schriftstellerin Hyman mit der ganzen Angelegenheit, wobei sich herausstellt, dass die beiden einst ein Paar waren, bevor sich Allen in Sally Rollins verliebte, die alle Cover seiner Sexromane zierte und seit Jahr und Tag in einem Palast in Havanna wohnt. Auf dem Flugzeugträger USS Intrepid kommt es zum ersten Showdown, als Hyman die Detektivin in eine Falle lockt und ihr Chauffeur, den Caroline als Eindringling in Allens Haus erkennt, im Handgemenge seine Chefin tötet und verhaftet wird. Aber als auch Andie tot in ihrem Pool treibt und der Tankstellenbesitzer, den die moralische Liga attackierte, skalpiert in einem Busch gefunden wird, macht sich Caroline auf nach Havanna, um der Sache dort endgültig auf den Grund zu gehen („Der Tote im Pool“/“Showdown in Havanna“)…
Mit der handgreiflichen Ermittlerin Caroline Baldwin schuf André Taymans Mitte der 90er eine weibliche Ausgabe des „hard boiled detective“ der Marke Mike Hammer, Philip Marlowe, Nestor Burma oder auch (als erste Comic-Inkarnation) Slam Bradley, den Jerry Siegel und Joe Shuster in der ersten Ausgabe der Detective Comics 1937 ins Rennen schickten. Der „hartgesottene“ Ermittler raucht wie ein Schlot, säuft wie ein Loch und hat ein mehr als lockeres Verhältnis zum anderen Geschlecht – und eine zynische, abgebrühte Weltsicht ist natürlich ein absolutes Muss. Caroline vereint all diese Züge, nimmt mehr als gerne mal einen Drink und prügelt sich ohne mit der Wimper zu zucken auch mit schweren Jungs, wobei sie in High Heels und dem „kleinen Schwarzen“ ihre weiblichen Reize definitiv nicht unter den Scheffel stellt. Als originelle Dreingabe versieht sie Taymans noch mit einer eher exotischen Herkunft als Huronin, die immer wieder durchscheint und vor allem in der letzten Episode auch inhaltliche Relevanz bekommt.
Ersonnen hatte Taymans die seine Heldin 1995 während einer Schaffenspause, als er anstelle von Jugendcomics einen 80seitigen One-Shot anfertigte, den er dem Verlag Dupuis anbot – dummerweise dem ärgsten Konkurrenten seines eigentlichen Hausverlags Casterman, der nach massiver Intervention des Verlagschefs Jean-Paul Mougin die erste Story im renommierten Magazin „A Suivre“ herausbringen soll. Dazu muss Taymans allerdings akzeptieren, dass ein „unhappy“ ending eingefügt wird – als Zugeständnis darf er die Figur einer Detektivin einbauen, die den Astronauten, eigentliche Zentralfigur der ersten Fassung, verfolgt und Basis für eine neue Serie sein darf. Durch diese Entstehungsgeschichte erklärt sich der melancholisch-atmosphärische Tonfall von „Moon River“, in dem die Detektivgeschichte fast schon zurücktritt hinter der tragischen Geschichte des Astronauten Frank White, dessen Depression durchaus keine Seltenheit war und in der Realität unter anderem auch „Buzz“ Aldrin plagte, den ewigen „Zweiten Mann“ auf dem Mond, der lange Jahre mit Alkoholismus und depressiven Attacken kämpfte.
Die zweite Storyline „Kontrakt 48-A“ zog Taymans dann alle Register der harten, kompromisslosen Detektiv-Geschichte, zu deren Schauplätzen in New York er höchstpersönlich reiste, um ein Höchstmaß an Realismus zu erreichen, was sich auch in der Grundidee von klammheimlich durchgeführten Experimenten mit radioaktiver Strahlung spiegelte, die durchaus nicht von der Hand zu weisen ist. Diese zweite Geschichte überzeugt neben der beklemmenden Handlung vor allem durch ein zutiefst bitteres, melancholisches Ende, an dem Caroline selbst als Verliererin vom Platz geht. Für das folgende Abenteuer um den unliebsamen Ghost Writer Tim Allen stellte sich Taymans ein gänzlich neues Problem: 40 Seiten waren bereits fertiggestellt, als es Wirbel um das Verlagshaus Casterman gab und alle Serien auf den Prüfstand kamen. Caroline überlebte letzten Endes, aber der Umfang eines Albums wurde von 64 und 46 Seiten gekürzt – als Ausweg dehnte Taymans die Story auf zwei Alben aus und fügte die ausführliche Havanna-Einlage hinzu.
Insgesamt scheint die letzte Episode, bestehend aus zwei Teilen, somit auch weniger dicht und dringlich als die Vorgänger, aber unterhaltsam und schmissig ist auch diese Geschichte allemal. Quasi als Kontrapunkt zu seiner modernen, kompromisslosen Heldin inszeniert Taymans die Abenteuer ganz klassisch im Ligne Claire-Stil, der durch die rabiate Dame und auch die nicht wenigen erotischen Szenen inhaltlich immer wieder unterlaufen wird. Ein Wunderwerk an Komplexität, Charakterisierung, akribischer Schauplatz-Recherche und vor allem diebischer Freude an der Schlagfertigkeit der Heldin entsteht somit, das bei Schreiber & Leser in diesem ersten Sammelband in der Kollektion „Alles Gute“ in aufwändiger Aufmachung als Hardcover mit Lesebändchen und ausführlicher Einleitung standesgemäß erscheint. Mit neuen Geschichten (die Sammelbände bringen die zuvor bei Comicplus erschienenen Storys) wird die Reihe ab Band 17 gleichzeitig im Albumformat weitergeführt. (hb)
Caroline Baldwin, Sammelband 1
Text & Bilder: André Taymans
240 Seiten in Farbe, Hardcover
Verlag Schreiber & Leser
39,80 Euro
ISBN: 978-3-96582-047-0