Sechs Jahre ist der Junge, unser Protagonist, alt, als er zum ersten Mal den Speicher des alten Herrenhauses, in dem er wohnt, betritt. Seine Mutter ist gerade gestorben und der Junge sucht neugierig Ablenkung zwischen den verstaubten Möbeln, Statuen und Bildern, die sich seit langer Zeit auf dem riesigen Dachboden befinden, wohin sich sonst niemand verirrt. Umso verblüffter ist er, als er in einer Ecke eine unheimliche Gestalt entdeckt: einen alten Mann, der sogleich mit ihm zu plaudern beginnt und sich zu seinem Erstaunen als Weihnachtsmann vorstellt. Zehn Jahre vergehen. Der Junge hat seine Begegnung fast vergessen, als er erstmals wieder den Speicher auf der Suche nach seiner verschollenen Katze betritt. Wieder trifft er den alten Mann, wieder ist die Begegnung nur kurz. Und wieder dauert es Jahre bis der Protagonist – inzwischen Familienvater – erneut den Speicher aufsucht und sich endlich ein längst fälliges, längeres Gespräch mit dem unheimlichen Mitbewohner ergibt…
Nach „Das Fleisch der vielen“ bringt der Splitter Verlag erneut eine Kurzgeschichten-Adaption des Bestseller-Autors Kai Meyer. Diesmal handelt es sich um eine Story aus dessen früher Karriere als Schriftsteller. Die Umsetzung besorgte die Berlinerin Jana Heidersdorf, die sich v.a. als Illustratorin von Fantasy-Buchcovern einen Namen machte. War „Das Fleisch der vielen“ eine lupenreine Horrorstory, die zu einer bestimmten Zeit (Gegenwart) an einem bestimmten Ort (das Hotel Astoria in Leipzig) spielt, ist „Der Speichermann“ von ganz anderer Natur. Hier haben wir eine Schauer-Mär – oder ein Schauer-Märchen – ohne feste Zeit und Ort. Die Geschichte beschränkt sich im Wesentlichen auf einen Raum und auf zwei Personen. In weiten Abständen, praktisch über sein ganzes Leben verteilt, trifft der namenlose Protagonist bei seinen seltenen Abstechern in den Dachboden stets auf den seltsamen Alten, der stets inmitten einer Portrait-Galerie hervorlugt. Nicht der Weihnachtsmann wie man sich ihn vorstellt, eher eine unheimliche, zwielichtige Gestalt mit fahlem Gesicht und damit nicht sonderlich vertrauenswürdig.
Fehlende Erklärungen und eine außer Kraft gesetzte Logik unterstreichen den düster-märchenhaften Charakter der Erzählung: der Protagonist vergisst seine Begegnungen, er hinterfragt sie auch nicht. Aus dem Auge, aus dem Sinn. Und wie kann der Alte da oben überhaupt überleben? Die Gefühlswelt der beiden bleibt dem Leser weitestgehend verschlossen. Das Ende, gewürzt mit einem beinahe zu erwartenden Twist, mag dann auch je nach Sichtweise versöhnlich oder grausam sein. Jana Heidersdorf versteht es mit ihren gemalten Panels der Geschichte durchgehend eine Aura des Unheimlichen zu verleihen, mit der undurchschaubaren Figur des Weihnachtsmannes im Mittelpunkt. Ist er nun gut oder böse? Führt er etwas im Schilde? Kann man ihm trauen? Natürlich ist es im Dachboden ständig duster, wobei Heidersdorf aber jede Begegnung der beiden Figuren einem dominierenden Farbton zuordnet, ähnlich wie bei viragierten Stummfilmen. Ganz stark sind ihre bildlichen Metaphern – der Krebs, der die Mutter buchstäblich zerfrisst, der Protagonist und seine Frau als Marionetten, der gläserne Sarg, der Schneewittchen zitiert. Am Ende des Bandes ist wieder die komplette Kurzgeschichte abgedruckt (zu der Kai Meyer übrigens eine Story von Neil Gaiman inspirierte), zusammen mit Charakterstudien und Cover-Entwürfen. (bw)
Der Speichermann
Text: Kai Meyer
Bilder: Jana Heidersdorf
72 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
18 Euro
ISBN: 978-3-95839-008-9