Ungemach kündigt sich an im Reiche Angleon: der alte König Cyrus liegt im Sterben. Die Thronfolge muss gesichert sein, nicht zuletzt, um den durchaus brüchigen Frieden mit den anderen umliegenden Herrschaftsgebieten weiter sicherzustellen. Da ist es unglücklich, dass der König keinen Stammhalter, sondern „nur“ zwei Töchter hat, die als künftige Herrscher nahezu undenkbar sind. In dieser misslichen Lage gedenkt Cyrus, seinem gewalttätigen und aufbrausenden Neffen Hirus auf den Thron zu verhelfen, der die Leibgarde bereits um sich schart, sich als künftiger Monarch gebärdet und schon Kriegspläne hegt, um alle Zweifel an seinem Herrschaftsanspruch im Keim zu ersticken.
Damit will sich Cyrus‘ älteste Tocher Mileria allerdings nicht abfinden: sie sendet eine geheime Nachricht nach Arnor und schlägt dem dortigen Prinz Khalden eine Zweckehe vor, um in dieser Konstellation doch noch eine Chance auf den Thron zu haben. Gleichzeitig entdeckt der Bibliothekar Helirius in der langen Geschichte des Reiches tatsächlich einen Präzedenzfall, in dem der Rat in einer ähnlichen Situation einen weiblichen Monarchen etablierte. Somit stehen die Aussichten für Mileria gar nicht schlecht – wäre da nicht ihre Schwester Astrelia, deren Affäre mit einem Soldaten der königlichen Garde aufzufliegen droht, was das waghalsige Vorhaben Milerias doch noch zum Scheitern bringen könnte…
Intrigen! Ränkespiele! Standesdünkel! Machtkämpfe! So weit, so bekannt aus der langen Geschichte von Königreichen und deren Potentaten. Der wunderbare Twist, den Lewelyn (ein Pseudonym, hinter dem sich das Autorentrio Andoryss, Chauvel und Wong verbirgt) ins Geschehen bringt, ist die Tatsache, dass wir es hier auch noch mit den unterschiedlichsten Rassen zu tun haben – und zwar aus dem Tierreich. In Angleon regieren die Raubkatzen, die Königsfamilie besteht aus (Königs?)Tigern, die Gardisten werden gestellt von Löwen, der Bibliothekar ist ein buchstäblich schlauer Luchs. Arnor erscheint als das Reich der Bären, weitere Gebiete sind bevölkert von Hunden, Vogelwesen und anderen Arten.
Diese anthropomorphe Darstellung zutiefst menschlicher Konflikte (auch in vollem Einsatz in der wunderbaren „Saga von Atlas und Axis“ oder jüngst im „Schloss der Tiere“) kristallisiert bezeichnenderweise die conditio humana überdeutlich heraus, wie etwa in Milerias brüsker Zurückweisung des Hilfegesuchs ihrer schwangeren Schwester: „Wie, meinst Du, soll ich an die Macht kommen, wenn meine eigene Schwester tut, was sie will? Du bist hier in Angleon. Und in Angleon vermischt man sich weder mit anderen Klassen noch mit anderen Rassen!“ Hirus ist der Prototyp des Machtmenschen, der zur Sicherung seines Thronanspruchs den von Cyrus seit Jahrzehnten gehegten Frieden über Bord werfen will, nur um seine Position zu festigen, und die Truppen sowie die Leibgarde hängen ihr Fähnlein nach dem Wind, der gerade aufzuziehen scheint.
Somit eine wunderbare Fabel, die – stets ein Kennzeichen von gelungenen Beiträgen zu diesem Genre – das menschliche Wesen ins Zentrum rückt, eben weil es in Tiergestalt auftritt. Aufwendig und spektakulär auch die Gestaltung von Jérôme Lereculey (u.a. „Wollodrin“), der mit hoher Detailfreude Kostüme, Uniformen und Waffen kreiert, in panoramahaften Szenen oft filmische Totalen verwendet und vor allem die tierischen Züge der Protagonisten treffend herausarbeitet. Somit ein mehr als vielversprechender Auftakt der Serie, die auf mindestens sechs Bände angelegt ist – Band 2 mit dem vielsagenden Titel „Einer lebt“ ist für Februar angekündigt. (hb)
Die 5 Reiche, Band 1: Mit all meiner Kraft
Text: Lewelyn
Bilder: Jérôme Lereculey
64 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
16 Euro
ISBN: 978-3-96219-578-6