Idyllisch und harmonisch ging es einst zu auf der Welt Yria: die Bewohner lebten in Eintracht mit den Abkömmlingen der alten Drachen, den Ylducian. Aber es kam, wie es in jedem Paradies kommen muss: irgendwann ging es den Yriern zu gut, man wollte mehr und stahl den Ylducian das Zentrum ihrer Macht, ihr Herz. Das fanden die Wesen weniger amüsant und legten in einer rasenden Attacke die blühende Welt in Schutt und Asche, bevor sie in einen Schlaf verfielen, in dem sie bis heute verharren. Durch die verheerten Landschaften ziehen seitdem einsame Reisende, vor denen sich die Siedler in den wenigen verbliebenen Städten gehörig fürchten. Eine davon ist Myre, die mit ihrem treulichen Flugdrachen Varug unterwegs ist, ohne eigentlich genau zu wissen was sie antreibt.
In ihrem Besitz findet sich eine geheimnisvolle Flöte, die für gehörig Aufsehen sorgt, als sie in einer Stadt eigentlich nur ein wenig Benzin für ihr leeres Feuerzeug kaufen will. Ein zwielichtiger Geselle lockt sie in eine Falle, in der eine fiese Bande sie ausrauben will, aber Varug greift rechtzeitig ein und lehrt den Lumpensöhnen Mores. Dennoch wird Myre bei dem Angriff verletzt und schafft es gerade noch zurück in ein Wirtshaus, wo sie der alte Boozer mit Verband und Schnaps notdürftig zusammenflickt. Im trauten Plausch erfährt man nun auch ein wenig mehr über Myres Herkunft: sie wuchs bei ihrem Onkel auf, der sie als Kind irgendwann einfach hängen ließ – seitdem durchstreift sie die Welt ohne Erinnerung an ihre Vergangenheit, aber immer in dem Wissen, einer größeren Bestimmung zugeeignet zu sein. Nachdem sie Boozer etwas schuldet, übernimmt Myre einen mysteriösen Auftrag: sie soll eine Schatulle in die Stadt Ehraan bringen, was gar nicht so ungefährlich ist, da Banden von Reisenden immer mehr Städte angreifen…
Zeichnerin Claudya Schmidt legt mit „Myre“ den Auftakt einer ausladenden Fantasy-Saga vor, deren Wurzeln in einer Sammlung von Skizzen und Ideen lagen, die sich um das ungleiche Paar Myre und Varug drehten. Gemeinsam mit Autor Matt Davis entstand daraus eine zusammenhängende Story, die die biblische Prämisse des Sündenfalls und Vertreibung aus dem Paradies als Ausgangspunkt nimmt, um eine in der Atmosphäre an Fantasy-Drachen-Abenteuer, aber auch den ersten Herrn der Ringe-Band angelehnte Geschichte zu spinnen – gerade die Szenen in den Tavernen, in denen finstere Gestalten lauern, erinnern an das „Prancing Pony“, in dem die Hobbits Station machen – , wobei in der schlagkräftigen Myre auch ein gutes Maß an Clint-Eastwood-Western-Saloon-Habitus zu entdecken ist. Gleichzeitig durchlebt Myre auch das klassische Quest-Motiv aus der höfischen Literatur, was der spaßige Boozer im Leitspruch zusammenfasst: „Suche nicht nach Deinem Pfad, Myre. Lass ihn Dich finden“.
Die Prämisse der Suche nach den verlorenen Herzen, die das Glück der Welt wieder herstellen könnten, eröffnet jede Menge Perspektiven für Reisen durch unbekannte, bedrohliche Orte, die im weiteren Verlauf dann ausgebreitet werden können. Im Zentrum stehen dabei die anthropomorphen Figuren, die (das kennen wir ja von der „Saga von Atlas und Axis“) als Tiere in menschlicher Gestalt ihre Charakterzüge wortwörtlich verkörpern: Myre selbst ist eine Art Füchsin, ihre zwielichtigen Angreifen sind wilde Stiere, Boozer erscheint als alter Wuschelhund. Dreh- und Angelpunkt bleiben allerdings die großflächigen Panels, auf denen sich die Handlung überwiegend ohne viele Dialoge entfaltet – detailgenau, oft wie eine Illustration, könnten die Bilder in der Regel auch für sich alleine stehen, was die Herkunft aus einer Ansammlung von Skizzen und Zeichnungen bisweilen erkennen lässt. Dennoch gelingt Claudya Schmidt vor allem durch die Bildgewalt ein überzeugendes Debüt, das sich im Rahmen einer Crowdfunding-Kampagne finanzieren ließ und schließlich bei Splitter eine standesgemäße Heimat fand. Wir hoffen, wir dürfen demnächst wie angekündigt noch mehr von Myre lesen. (hb)
Myre – Die Chroniken von Yria, Buch 1
Text: Claudya Schmidt, Matt W. Davis
Bilder: Claudya Schmidt
96 Seiten in Farbe, Hardcover
Splitter Verlag
19,80 Euro
ISBN: 978-3-96219-105-4